Kapitel vom 11.06.1890: Brüderlicher Respekt voreinander
„Um die Liebe und brüderliche Eintracht zu wahren, werden die Oblaten große Ehrfurcht voreinander hegen.“
Wir schulden uns gegenseitig Ehrfurcht. Das gilt als allgemeine Regel, damit wir die Liebe wahren und jeder an seinem Platz und in seiner Situation verbleibe. Um die Hochachtung der anderen zu erringen, muss man sie natürlich zuerst den anderen erweisen. Die Ehrfurcht macht uns zu Königen über die Herzen.
Jeder hat Anspruch auf unsere Achtung. Zunächst unsere Mitbrüder, aufgrund ihrer Eigenschaft als Ordensleute. Seien wir zutiefst von dem Gedanken erfüllt, dass sie Tabernakel des lebendigen Gottes sind. Diese Ehrfurcht vor unseren Mitbrüdern ist ein Angelpunkt unserer Satzungen. Es versteht sich sodann von selbst, dass wir auch den Außenstehenden und unseren Schülern Hochachtung schulden. Eine Bezeigung dieser Achtung nur im Herzen würde natürlich nicht genügen. Wir müssen sie auch im Herzen tragen.
Hat jemand nicht die gleiche Ansicht wie wir, so wollen wir ihn deshalb nicht leichtfertig verdammen. Auch er hat seine Überzeugung, die unsere Wertschätzung verdient. Das ist ein wichtiger Punkt des geistlichen Lebens. Meidet unbedingt allen Studentengeist, jenen Geist, der alles nach subjektiven Maßstäben misst und alles andere ablehnt und verachtet. Das ist sehr schlecht. Wir müssen jedem das Recht einräumen, anders als wir denken. Ein Ordensmann, dem diese Achtung vor der Meinung des anderen abginge, würde sich bald daran gewöhnen, über seinen Nächsten streng und ungerecht zu richten. Was im Anfang nur wie ein Spiel aussah, würde zuletzt zu einem ausgesprochenen Widerwillen ausarten. Diese Einstellung würde aber den Ordensmann entwerten und verderben. Es geht hier also um einen enormen Fehler. Vergleicht damit, welche Ehrerbietung früher die Kinder ihren Eltern entgegen gebracht haben. Hieß das etwa, dass die früheren Väter und Mütter vollkommen waren? Gewiss nicht. Das hinderte aber keineswegs, dass man sie hochachtete.
Erforschen wir darüber gut unser Gewissen. Es gibt ja kaum noch Ehrfurcht auf der Welt. Gerade das aber sollte Ordensleute von anderen unterscheiden, dass sie allen mit Hochachtung begegnen. Ich bestehe darauf nachdrücklich, weil es mich sehr bedrückt, feststellen zu müssen, wie dieser Studentengeist, von dem ich eben sprach, sich auch in unseren Reihen breitmacht. Ich habe gerade euch im Auge, die ihr da zuhört… Vielleicht ist man aber auch hier geneigt, sich ziemlich frei zu behandeln. Ich verlange keine heroischen Taten, sondern ganz einfach, dass ihr echte Ordensleue seid, die ihre Satzungen halten.
„…und schlicht, herzlich und liebevoll miteinander verkehren.“
In unserer Ehrfurcht sollte etwas liegen, was anzieht und gefällt. Ich wünschte sehr, man würde über uns noch jene Bemerkungen machen, die in den ersten Zeiten unserer Gründung oft zu hören waren. Man fand, dass wir viel Einfachheit, Herzlichkeit, Eintracht, Sanftmut und Heiterkeit besäßen. Das überraschte die Menschen und gewann uns ihre Sympathien…
„Besondere Freundschaft sollen sie ebenso vermeiden wie jede Abneigung.“
Partikularfreundschaften sind der Untergang der Liebe, während Abneigungen ganz vernunftwidrig sind. Jeder hat sein eigenes Naturell. Kein Zweifel, im Leben einer Gemeinschaft bleiben Reibungen, Sympathien und Antipathien unvermeidlich. Verschiedenartige Charaktere können nicht zusammenleben ohne Zusammenstöße. Dem Lebhaften geht der langsame Trödler auf die Nerven. Der eine ist gütig, der andere hart und raubeinig. Der liebe Gott lässt diese verschiedenen Temperamente zusammentreffen, damit sie sich durch ihren Kontakt gegenseitig abschleifen und vervollkommnen. Fühlt man nun im Herzen solch eine Abneigung hochsteigen, müssen wir zu Gott im Gebet unsere Zuflucht nehmen, entgegenstehende Akte verrichten, die guten Seiten des Mitbruders ins Auge fassen, die uns vielleicht abgehen. Ohne Gebet ist das jedenfalls nicht möglich. Das Geheimnis unserer Liebe zum Nächsten liegt allein im Herzen unseres Erlösers.
„Dem Oberen sollen sie Ehre und Hochachtung erweisen… und ihnen niemals widersprechen.“
Alle ungeziemenden Redensarten sollten in unserer Unterhaltung fehlen. Damit sei nicht gesagt, wir dürften keine eigene Meinung haben über die Dinge, die gerade zur Debatte stehen, oder es sei abwegig, diese Meinung auch zu äußern. Nein, das Entscheidende dabei ist, dass wir auf den Ton achtgeben und die Art, wie wir unserem Standpunkt Geltung verschaffen. Es muss dem Gesprächspartner klar werden, dass wir nicht aus purer Rechthaberei oder mangelnder Hochachtung widersprechen.
„Sie sollen einander, besonders den Priestern, stets höflich und gefällig begegnen.“
Den priesterlichen Charakter sollte man jederzeit ehren und sich stets bewusst bleiben, dass der Priester doch irgendwie ein anderer Mensch ist… Dieses Bewusstsein sollte in uns stark entwickelt sein, denn es strömt aus dem Glauben und aus Gott.
„Die Oblaten werden sich stets grüßen, wenn sie einander begegnen oder ansprechen.“
Bei jeder Begegnung mache man wenigstens eine kleine Kopfverneigung. Hat man es im Drang der Geschäfte eilig, so bleibt für einen Gruß oft keine Zeit. Doch wird man immer etwas Herzlichkeit erzeigen können. „Aber, das sind doch alles Bagatellen“, werdet ihr mir sagen. Ja, aber sehr wichtige, denn diese Kleinigkeiten erhalten das Feuer der Liebe.
Auch aus unseren Worten muss diese Ehrfurcht zu spüren sein, sodass uns niemals ein Verstoß gegen die Liebe unterläuft. Das geht nicht ohne ständige Wachsamkeit. Und die wollen wir in dieser Woche besonders betätigen. Damit will ich euch nicht nur eine gute Lehre oder graue Theorie vortragen. Das ist vielmehr ein Programm, das unser Leben umgestalten kann, wenn wir danach leben. Seht nur die schönen Feste des heiligsten Herzen Jesu und Fronleichnam: wie vorzüglich beweisen sie doch die Liebe und Ehrfurcht des Gottmenschen zu uns Menschen, wie eindringlich mahnen sie zur gleichen Haltung einer dem anderen gegenüber.
Empfehlen wir dem lieben Gott in diesen Tagen beim Memento der Messe die gute Schwester Maria-Genofeva, die am 10. Juni ihren Jahrestag hatte. Sie hat mir oft gesagt, was die Oblaten sein sollen, und was der liebe Gott von ihnen erwartet. Aber um den Absichten Gottes über uns zu entsprechen, müssen wir ganz treu sein. Ich komme immer wieder auf diese Empfehlungen zurück und möchte sie „unsere Gebote“ nennen. Ohne sie wären wir in der Kirche unnütz. Mit ihnen führen wir in Wahrheit das Leben von Oblaten.
Ja, treu müsst ihr sein. Sucht euch nicht Freiheiten zu verschaffen, die euch des Charakters von Ordensleuten berauben würden. Seht nur, welch Aufhebens man in Rom und überall von der Lehre des hl. Franz von Sales macht! Was der Papst darüber sagt, ist nur zu wahr. Und als neues Zeichen der Ermutigung empfangen wir soeben von Seiten der Kirche die Approbation der Oblatinnen. Alle haben Vertrauen zu uns. Aber unsere Sache muss zu unserer Herzenssache werden. Was wir brauchen, ist Liebe, ist Ehrfurcht, ist Gehorsam zur hl. Regel: darin liegt alles beschlossen.
In dieser Stunde empfangen fünf Bischöfe nach Oblaten und Oblatinnen. Sie haben im „Leben der Guten Mutter“ (von P. Brisson geschrieben) gesehen, wes Geistes Kinder wir sind, und das sie für uns eingenommen. Von welcher Weite und welchen Reichtum der Gedanken zeugt doch, der allen Menschen so wohl bekommt! Aber dieser Geist muss unser geistiges Eigentum werden. Wir können die Zukunft nur dann auf sichere Füße stellen, wenn wir die Gegenwart solide verankern. Zu diesem Zweck müssen wir Heilige werden, stets bemüht, den lieben Gott in allem und überall zu suchen.
D.s.b.
