Kapitel vom 19.03.1890: Die Verteilung der Kapitel und die Ruhe in den Häusern
Ich wünsche sehr, dass die Niederschrift meiner Kapitel mit großer Gewissenhaftigkeit vorgenommen werde, dass man sie in alle unsere Häuser schicke und man sich überall nach dem richte, was ich hier sage. Es ist wichtig, dass man sich genauestens an jenen Sinn unserer Satzungen und des Direktoriums hält, den ich ihnen gebe. Unsere Niederlassungen wachsen an Zahl. Aus Rio-Bamba höre ich, es gebe dort schon junge Postulanten. Der Name „Oblate des hl. Franz v. Sales“ darf keine bloße Etikette sein. Unsere Patres in den weit entlegenen Häusern dürfen nicht in Gefahr kommen, dass jeder sich nach seinen eigenen Ansichten richtet. Enthielte unsere Ordensregel strenge Bußübungen, so wäre es leichter, ein guter Ordensmann zu sein. Denn dann ließen sich jene leicht feststellen, die sich um die Regel nicht kümmern, die Schuhe und Strümpfe tragen statt barfuß zu gehen, die frühstücken anstatt zu fasten. Darum müssen wir umso mehr in den Geist unserer Ordensregel eindringen. Wenn jeder sich absondert, wird jeder trotz bester Absichten dazu beitragen, die Kongregation zugrunde zu richten. Vierzig Jahr lang konnte ich die Heimsuchung aus nächster Nähe beobachten. Ich habe gesehen, wie dort alles gemacht wird, habe den Geist des Gehorsams bewundert, der dort herrscht. Es geht nicht an, dass jeder meint, er allein habe recht. Wir müssen auf den Oberen hinhören und in Abhängigkeit handeln. Das ist das einzige Mittel, den Geist der Genossenschaft zu erhalten. Was ich da von mir sage, gilt natürlich ebenso von meinem Nachfolger an der Spitze der Kongregation.
Er muss wirklich Superior sein, muss die Regel authentisch auslegen, und jeder muss seine Auslegung annehmen. Ich empfehle sehr, dass der Generalobere nicht nur dem Namen nach Obere sei, sondern seine Vorrechte auch ausübe, und jeder im Geist des gegebenen Gehorsams handle. Wir brauchen uns deshalb keine sonderliche Sorge zu machen, das ist gar nicht so schwer: jeder muss sich nur gewissenhaft ans Direktorium halten, an die Satzungen und den Gehorsam. Gott schenkt seine Erleuchtungen denen, die er treu findet.
Die Kapitel sollen, wie es bereits geschieht, in alle Häuser verschickt werden, damit überall derselbe Geist herrsche. Bei uns darf es keine Kirchen in der Kirche geben. Auch in der Kirche Gottes geht alles vom Papst aus und kehrt zu ihm zurück. So soll auch im Orden alles vom Generaloberen ausgehen und zu ihm zurückkehren.
Seht nur, wie es unsere Missionare machen: Ich erhalte soeben einen langen Brief von Pater David, in dem er mir die geringsten Einzelheiten ihres Tuns und Lassens mitteilt, und mich um genaue Anweisungen für alles bittet, damit alles in Abhängigkeit geschehe. Pater Simon tut dasselbe. Darin erblicken unsere vom Mittelpunkt der Kongregation entfernten Mitbrüder das Mittel, Unterstützung und Ermunterung zu erlangen. Es ist dies auch ein Mittel, falsche Wege zu vermeiden, sich immer der nötigen Kraft zu erfreuen und das gesteckte Ziel zu erreichen. So haben unsere Missionare die Gewissheit, auf dem rechten Weg zu sein, und ich mache mir für sie weniger Sorge als für unsere Schulpatres. Schickt also meine Kapitel in jedes Haus, dass man sie lese und zur Grundlage der wöchentlichen Zusammenkünfte mache.
In mancher Umgebung ist es schwierig, den klösterlichen Geist zu bewahren, weil man zu vielen Zerstreuungen ausgesetzt ist. So stelle ich z.B. in Paris fest, dass für Ordensfrauen nur sehr schwer Nachwuchs zu bekommen ist. Das sehe ich bei den Oblatinnen. Was man auf der einen Seite gewinnt, verliert man allmählich auf der anderen… Betrachtet die Jesuitenpatres. Sie konzentrieren ihre klösterliche Ausbildung ganz auf diesen Punkt: Ehrfurcht und Gehorsam gegenüber allem, was vom Oberen kommt. Ihre Methode lässt sich so ausdrücken: alles, was von ihrer Kongregation kommt, ist gut und gereicht zum Besten. Man wirft ihnen vor, sie seien zu exklusiv. Darin tut man ihnen etwas unrecht. Nicht weil sie eigenwillig sind, sind sie das, was sie sind. Machen wir uns ruhig den Gedanken zu Eigen, dass alles, was wir außerhalb unseres Weges tun, für uns nicht gut ist, wie es unser hl. Stifter versichert. Sonst würden wir den Zweck unserer Ordensgründung verfehlen. Wir sind verpflichtet, innerlich viel religiöser zu sein, als andere Ordensleute, weil uns die äußeren Mittel der anderen abgehen.
Der „Kapitelsekretär“ möge dies gewissenhaft in den Text des heutigen Kapitels aufnehmen, und auf jeder der wöchentlichen Versammlungen unserer Häuser soll man die Kapitel des Generaloberen vorlesen.
Es sind keine wohlgesetzten, glänzend geschriebenen und redegewandten Konferenzen, sondern ganz einfache und ungezwungene Unterweisungen zur Erklärung der hl. Regel. Aber betrachtet nur die Evangelien zum Vergleich: das sind auch keine gelehrten Abhandlungen oder Vorlesungen, sondern Berichte über Worte und Taten unseres Herrn, über seine Handlungen und Wunderzeichen. Nehmt das Direktorium unseres hl. Stifters: es ist auch kein Moralkodex, der Kapitel für Kapitel unsere Verhaltensweise festlegt, und einen Artikel streng logisch aus dem vorhergehenden entwickelt, wie es in Büchern der Moral und Aszetik der Fall ist. Es ist bezeichnend, dass alle Gesetzgebungen ursprünglich in dieser einfachen, ungekünstelten Form abgefasst waren. Erst später kamen gelehrte und methodische Kommentare dazu.
„Das Stillschweigen wird stets beobachtet, ausgenommen während der Erholungszeit.“
Unsere Verstöße gegen das Stillschweigen wollen in Kulp und Beichte anklagen und um eine kräftige Buße bitten. Solange wir diesen Punkt unserer Regel nicht ernst nehmen, sind wir keine Ordensleute. Der liebe Gott ist dann nicht mit uns. Vieles Schwatzen bedeutet Leichtfertigkeit und einen oberflächlichen Geist. Kann man nicht schweigen und mit Gott allein leben, sondern muss schwätzen, dann ist das erbärmlich. Besonders in der Kirche fasse man sich kurz, wenn unbedingt ein Wort gesprochen werden muss.
„Wo immer man spricht, selbst während der Erholung, vermeide man zu lautes und zänkisches Reden, woran Mitbrüder und Fremde Anstoß nehmen könnten.“
Lautes Reden sei bei uns verpönt. Gewiss kann die Unterhaltung einmal lebhaft und hitzig werden. Deshalb braucht sie aber nicht ausfällig zu werden. Aller Zank und Streit ist zu vermeiden. Merkst du, dass deine Unterhaltung mit einem Mitbruder leidenschaftlich wird – soll man sie dann abrupt abbrechen? Auf keinen Fall! Damit könntest du deinen Mitbruder verletzen. Du gibst vielmehr deiner Unterhaltung eine andere Wendung und schließt mit einem liebenswürdigen und freundlichen Wort das Gespräch ab. Franz v. Sales legt so großen Wert auf die Herzlichkeit unserer Beziehungen.
Vermeidet auch allen Lärm beim Gehen sowie beim Öffnen und Schließen der Türen. In unserem Gehen bleiben wir immer natürlich und einfach, benehmen uns auch nicht lächerlich, nur um kein Geräusch zu machen. Wir brauchen auch keine kindischen und übertrieben Vorsichtsmaßnahmen anzuwenden. Auch in unserem Zimmer verhalten wir uns leise. Beim Essen wollen wir in unseren Bewegungen recht ruhig sein. Eines Tages machte ich dem Regens des Priesterseminars von Dijon, H. Thibaut, eine Freude: als er meine Meinung über seine Seminaristen im Refektorium hören wollte, konnte ich ihm sagen, dass da viele Menschen ihre Suppe aßen, ohne den geringsten Lärm zu machen. Das zeugt von Sammlung.
Wenn aber Seminaristen sich so verhalten, können wir es auch. Wer in kleinen Dingen versagt – wie will der Großes vollbringen? Trägt ein Baum keine Blüten, dann bringt er auch keine Früchte hervor. „An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen.“ Von den Ordensleuten kann man behaupten, sie seien aus den Blüten noch besser zu erkennen als aus den Früchten: ich meine die Blüten jener Achtsamkeit und Wachsamkeit, die sich selbst in den kleinsten Dingen bewährt.
Das möge man wohl begreifen. Alles sollen wir mit vollendetem Anstand tun, wozu sich aber auch der Wandel in der Gegenwart Gottes, Liebe und Ehrfurcht vor dem Mitmenschen, sowie die klösterlichen Gewohnheiten gesellen müssen. All das nenne ich Blüten. Wo sie sichtbar werden, darf man auch Früchte erwarten: bleibende Blüten und Früchte.
Ohne all das ist ein Ordensmann nicht denkbar. Vergessen wir nie das Wort des Tridentinums: Nur Ernst, Maß und Frömmigkeit sollen sie zur Schau tragen. Gilt das schon für die Weltgeistlichen, wie viel mehr für uns Ordensleute!
D.s.b.
