Kapitel vom 12.03.1890: Respekt, Herzlichkeit und Ruhe
„Um die brüderliche Liebe und Eintracht zu bewahren, werden die Oblaten große Ehrfurcht voreinander haben und schlicht, herzlich und liebevoll miteinander verkehren.“
Große Ehrfurcht ist die Vorbedingung der Nächstenliebe. Wie erwirbt man sie? In jedem Menschen findet sich etwas Gutes, das uns fehlt – so gesehen ist uns jeder Mitmensch überlegen. Der liebe Gott beurteilt und richtet die Herzen aller Menschen. Wer sich einem anderen vorzieht, ist zum Mindesten unklug. Äußeres Tun genügt nicht, um unser Urteil darauf zu gründen. Äußere Handlungen können Mängel und Fehler aufweisen. Das berechtigt uns nicht, über die innere Absicht ein Urteil zu fällen. Böse Taten können aus Unwissenheit, Unfähigkeit, oder Unüberlegtheit stammen. Manchmal kann es sogar eine Zulassung Gottes sein, jemand, der für gewöhnlich ein gutes Urteil hat, in einer bestimmten Verblendung zu belassen. Gott teilt seine Gnaden in verschiedenem Maße aus. Darum ist es sehr vermessen, seinen Mitmenschen abzuurteilen. Im Allgemeinen kommt ein nachteiliges Urteil über einen Menschen, den man einen Fehler begehen sah, von einem Mangel an Liebe. Wir schulden jedermann Ehrfurcht – nebenbei gesagt auch denen, die unserer Sorge anvertraut sind. Achten wir unsere Kinder und Schüler hoch. Ehren wir ihre Unschuld. Behandeln wir sie stets mit äußerstem Feingefühl. Legen wir grundsätzlich Hochachtung in unserem ganzen Umgang mit ihnen, mit reiferen Jungen, überhaupt mit allen, mit denen wir es zu tun haben. Das wird ihnen todsicher Liebe zu Gott wie zu uns einflößen. Diese Ehrfurcht also, die wir jedermann schulden, sollten wir natürlich in erster Linie unseren eigenen Mitbrüdern entgegenbringen. Denn, wie gesagt, hat jeder uns etwas Gutes voraus, und es ist Vermessenheit, ihn zu richten und zu verurteilen. Die Erfahrung wird euch dies lehren. Ich stehe an der Schwelle des Greisenalters und habe viel erlebt. So habe ich gesehen, wie solche, die gern über andere zu Gericht saßen, selbst in große Fehler fielen. Mag sein, dass ihr Tatsachen, die ihr selbst gesehen habt, auch beurteilen könnt. Die wirkliche Schuld aber, das tatsächliche Verdienst, kann nur Gott ermessen. Wer sich Gottes Rache anmaßt, zieht sich sein Missfallen zu, und Gott ist bereit, ihm mit demselben Maß zurückzumessen, mit dem er andere gemessen hat. So sagt übrigens unser Herr selber. Das möge uns dem Nächsten gegenüber in großer Ehrfurcht erhalten. Ehrfurcht ist auch das Wort, das die hl. Regel gebraucht.
Damit will ich nicht sagen, wir müssten unseren Untergebenen mit der gleichen Willfährigkeit und Ehrerbietung begegnen, die wir unseren Vorgesetzten erweisen würden. Bezeigen wir ihnen auf jeden Fall einfache Herzlichkeit, aus der Liebe und Güte zu spüren sind. Davon zeugt schon die erste Seite der Kirchengeschichte. „Sehr nur, wie sie einander lieben!“ sagten die Heiden von den ersten Christen. Damit hat die Kirche die heidnische Welt bekehrt. Die altehrwürdigen Mittel sind immer die richtigen. Bleiben wir dabei!
„Besondere Freundschaft sollen sie ebenso meiden wie jede Abneigung.“
Ein Ordensmann ist all seinen Mitbrüdern in Liebe zugetan, wie man in einer Familie seine Zuneigung allen gleichermaßen zuwendet. Dass man für einen tugendhafteren Mitbruder mehr Sympathie empfindet, ist natürlich. Richtet sich diese Sympathie aber auf den Nächstbesten, so kann man sie nicht recht übernatürlich nennen. Schenkst du einem Mitbruder deine Zuneigung, weil er pünktlich, fromm und regeltreu ist, dann ist nichts einzuwenden. Beweist es doch, dass du selbst regeltreu bist oder es werden möchtest. Sympathisierst du aber mit einem Mitbruder, der weder regeltreu noch pünktlich noch fromm ist, dann beweist du, dass du selbst nicht besser bist als er. Darum möge jeder alle seine Mitbrüder lieben, ohne einen vorzuziehen oder zurückzusetzen. Das Gegenteil wäre dem Gemeinschaftsgeist direkt entgegengesetzt. Diese Liebe zu allen ist enorm wichtig. Auch hier gilt das Wort, das ich schon tausendmal angeführt habe: Was nichts kostet, ist nichts wert. Wenn nötig, machen wir dies zu einer unserer Fastenübungen.
Ich darf daran erinnern, dass wir zu einem Fastenopfer verpflichtet sind. Unsere Fastenordnung weist keine großen Kasteiungen auf. Groß sei sie aber trotzdem durch die Treue zu unserer hl. Regel. Bestimmt wäre der liebe Gott sehr zufrieden, würden wir aus Bußgeist eine besondere Liebe und Herzlichkeit zu unseren Mitbrüdern betätigen. So hätten wir das doppelte Verdienst der Abtötung wie der Liebe.
„Den Oberen sollen sie Ehre und Hochachtung erweisen.“
Das versteht sich von selbst. Jeder erzeige seinem Oberen Ehrfurcht, nicht wegen seiner Qualitäten, Tugenden und Talenten, sondern weil ihn eine Autorität umkleidet, die von Gott stammt. Nicht ein Mensch ist letztlich über uns gestellt, sondern Gott selbst ist es. Der Mensch vertritt nur die Autorität und Liebe Gottes, der der wahre und einzige Obere ist. Ich war tief beeindruckt von einem Besuch in der Benediktinerabtei Pierre-qui-Vire. Ich kam zu Fuß von Avallon (Anm.: „18 km von der Abtei entfernt“) und stieg den Berg hinauf. Einen Teil der Strecke machte ich mit dem Prior zusammen. Etwa einen Kilometer vor dem Kloster kamen uns die Novizen entgegen. Ihre ungewöhnliche Ehrfurcht und Freude, den Pater wiederzusehen, ergriffen mich tief. Wir marschierten weiter, und der Notar von Quarre-les-Tombs gesellte sich zu uns. „Herr Pater“, sagte er, „wenn es keinen Himmel gibt, sind Sie schwer hereingefallen, nach all dem zu urteilen, was Sie für ihn tun.“ – „Aber wir haben ihn ja hier schon auf Erden“, antwortete dieser. „Wieso denn?“ kam die erstaunte Frage. „Nun, sehen Sie denn nicht die Freude und das Glück dieser Kinder da. Sehen Sie nur, wie wir einander lieben, und da sollten wir nicht hier schon überglücklich sein?“ Der Notar wurde etwas rot und murmelte: „Ja, das ist wahr.“
Erzeigen wir einander also große Ehrerbietung. Sind wir einmal nicht der gleichen Meinung – und das dürfte wohl unvermeidlich sein – dann unterlassen wir wenigstens alles Streiten. Legen wir Ehrfurcht in all unser Reden und Tun, sodass ein fremder Beobachter sich daran erbauen könnte. An diese Regel wollen wir uns halten, so wie wir auch keinen Brief schreiben, der nicht auf offenem Marktplatz verlesen werden könnte.
„Auch werden die Oblaten einander stets grüßen, wenn sie sich ansprechen oder begegnen.“
Wir brauchen ja keinen Hofknicks zu machen, aber einen schlichten und herzlichen Gruß sollten wir nie unterlassen. Ich selbst nehme immer das Birett ab, wenn ich einen unserer Patres begegne. Tut das gleiche, falls ihr nicht zufällig dieselbe Beschäftigung ausübt und euch ständig begegnet. Seid ihr verhindert oder habt ihr keine Zeit mehr, den Hut abzunehmen, so macht wenigstens eine leichte Kopfverneigung. Macht auch eine freundliche Bemerkung zum anderen hin. Steht ihr beisammen und habt mit einem Mitbruder etwas zu besprechen, so nehmt Rücksicht darauf, dass man euch von Anfang an beobachtet, um euer Mienenspiel und die Art eures Umgangs zu erkunden. Es ist dem Menschen einfach angeboren, andere im Gespräch zu beobachten und sich sein Urteil zu bilden.
„Das Stillschweigen wird ständig beobachtet, außer während der Erholungszeit. Ist es eines Dienstes wegen nötig, ein Wort zu sagen, wird man es kurz und leise tun.“
Ich weiß nicht, ob wir große Liebhaber des Schweigens sind. Wenn nicht, dann wollen wir auch dies in unseren „Haushaltsplan“ der Fastenzeit einreihen. „Gebrauchen wir sparsamer Worte, Speisen und Getränke“. An der Klosterpforte der Kartäuser liest man die Worte: „Durch Einsamkeit, Schweigen und Besuche (des Oberen in den Zellen) erhält sich der Kartäuser im Eifer und bedarf keiner Reform. Die Kartäuser haben das beständige Stillschweigen, außer bei den Spaziergängen.“ Einer meiner Mitseminaristen, der in der 5. Gymnasialklasse verstarb, sprach nie ein Wort während des Stillschweigens, obwohl man ihn oft zum Schwätzen reizte. Er starb wie ein Heiliger. Es wäre gut, wenn wir in unseren Gewissenserforschungen auch einmal diesen Punkt des Schweigens überprüfen und in unser Fastenprogramm aufnehmen wollten. Vieles Reden geht nicht ohne Sünde ab. In der Kirche soll man – außer dringender Notwendigkeit – nie sprechen. Auch nicht in der Sakristei, im Schlafsaal und im Refektorium. Diesen Punkt sollten wir ernst nehmen. Welch schöne Gedanken haben die Meister des geistlichen Lebens über das Schweigen vorgetragen! Zu den Wüstenvätern, die sich im Schweigen treu erwiesen, kamen die Engel und unterhielten sich mit ihnen. Das Stillschweigen schenkt uns als Lohn den lieben Gott. Es nährt und stärkt unsere Seele. Im Schweigen liegt die Schönheit und der Glanz des Ordenslebens: Ihr tragt den Himmel in euch.
