Kapitel vom 12.02.1890: Die brüderliche Zurechtweisung
„Jeden Monat muss der Obere im Kapitel oder im Besonderen alle Oblaten wegen vorgefallener Verstöße gegen die Regeln und Satzungen brüderlich zurechtweisen.“
Es wäre sicher ausgezeichnet, wenn der Obere diese brüderliche Zurechtweisung im Kapitel vornehmen könnte. Ja, das wäre sehr gut. Denkt an das Wort unseres Herrn vom neuen Flicken auf dem alten Kleid, der ein noch größeres Loch reißt, oder vom neuen Wein in alten Schläuchen, der den ganzen Schlauch zum Platzen bringt. Das sicherste Mittel, die Geister zu prüfen und zu unterscheiden sowie die Einheit eines Ordensberufes zu erproben, ist die brüderliche Zurechtweisung im Kapitel. Wenn wir so vollkommen sind, dass wir das befolgen, dass wir das befolgen, haben wir einen großen Schritt nach vorn getan. Bis dahin aber lastet die Pflicht der „Correctio fraterna“ auf dem Gewissen des Oberen, der allmonatlich zu prüfen hat, was er jedem Untergebenen sagen muss. Die Satzungen umschreiben auch, worauf sich die Zurechtweisung erstrecken soll: auf Verstöße gegen die Regeln und Satzungen. Auf jeden Fall ist dieser Punkt nicht die angenehmste Pflicht eines Oberen.
„Jedes Mitglied der Genossenschaft kann seinem Oberen außerhalb der Beichte Rechenschaft ablegen über die äußeren Fehler…“
Mir wäre es lieber gewesen, wenn man diese Rechenschaft zur Pflicht gemacht und dafür die Zurechtweisung dem freien Belieben überlassen hätte. Die Regel wurde aber anders gefasst, und ich unterwerfe mich. Das gibt mir aber Gelegenheit, ein kurzes Wort über die Rechenschaft zu sagen. Ich selbst ziehe sie fünfzigmal der „Correctio“ vor, weil sie mir salesianischer erscheint. Ich lehne mich zwar nicht gegen diese Änderung der ursprünglichen Form unserer Satzungen auf, aber – drückt einen der Schuh, darf man es ruhig sagen: Rechenschaft ablegen ist salesianischer. Der Untergebene kommt da zu seinem Oberen und gewährt ihm Einblick in sein Inneres. In aller Einfachheit und Ehrlichkeit spricht er sich über Fortschritte und Rückschritte aus. Er zeigt ihm sein Übel wie der Kranke zum Arzt, wie das Kind zum Vater. Bei der Zurechtweisung hingegen geht der Obere zum Untergebenen… und es ist nicht leicht, jemandem anzuklagen und ihm zu sagen, dieses und jenes ist nicht in Ordnung. Darum kann ich euch nicht genug einladen, und so dem Oberen Gelegenheit zu geben, euch auf Fehler aufmerksam zu machen. Jeden Monat sollen wir dies gewissenhaft tun, sollen ihm unsere Verstöße gegen die hl. Regel, unsere Neigungen und Schwierigkeiten, unseren Seelenzustand offenlegen. Eine Menge peinlicher Vorfälle würde so vermieden und gemildert. Man spricht sich aus und wird sich wieder einig in der Liebe. Die Treuherzigkeit der Beziehungen zwischen Untergebenen und Oberen kann man in der Tat nicht genug empfehlen.
„Dieser Punkt ist aber nicht Vorschrift, sondern dem Belieben des einzelnen überlassen…“
Was Rom bewogen hat, diesen Satz unserer Regel beizufügen, sind gewisse Missbräuche, die in manchen Ordensgemeinden mit der Rechenschaft getrieben wurden. Einige Obere gingen darin zu weit. Rom hat daraufhin eine allgemeine Maßnahme ergriffen. Es ist wohl zu beachten, und von jedermann zu beherzigen, dass an der Rechenschaft selbst, so wie sie der hl. Franz v. Sales vorschreibt und die Heimsuchung beobachtet, nie etwas bemängelt wurde. In der Heimsuchung ist die Rechenschaft Pflicht. Weiß er Beichtvater dies nicht, dann kann er es übel nehmen, wenn dort die Novizenmeister oder Oberin Seelenführung betreibt, oder wenn eine Internatsleiterin diesem oder jenem Mädchen die hl. Kommunion verbietet. „Was geht die das an, das ist doch meine Sache!“ mag er da denken. Hier müssen wir sehr klar sehen. Was ist letzten Endes deine Sache? Nichts anderes als Gutes zu tun, Seelen zu retten und alles zuzulassen, was den Seelen nützt. Wenn eine Mutter sieht, dass ihre Tochter am Vortag oder am Morgen des Kommuniontages sich ungebührlich benimmt, wird sie nicht zögern, ihr die Kommunion zu verbieten. Und niemand wird ihr daraus einen Strick drehen, weil es einfach natürlich und berechtigt ist. Wenn der Beichtvater wähnt, seine Rechte würden dadurch eingeschränkt, und er sich darüber aufregt, dann ist er ungeschickt. Denn hier geht es dann nicht mehr um Eifer oder Klugheit, sondern ganz einfach um verletzte Eigenliebe und Stolz. Gewiss muss der Beichtvater in diesen Dingen Autorität besitzen. Niemand denkt daran, sie ihm streitig zu machen. Aber kann man in diesem Autoritätsbewusstsein nicht auch zu weit zu gehen? Davor wird sich ein Oblatenbeichtvater und – spiritual hüten. „Aber dann bin ich ja der Unterlegene!“ Bist du dazu da, der Überlegene oder Unterlegene zu sein? Du bist dazu da, ein Maximum an Gutem zu wirken für die Seelen. Hier wird deiner Eigenliebe ein Opfer abverlangt. So bringe es!
Stellt zum Vergleich einen Beichtvater oder Hausgeistlichen daneben, der ein gesundes Urteil hat. Er wird sich sagen: „Ich bin da zum Besten meiner Schützlinge. Das Beste aber ist der Friede und die Eintracht. Bei der zur Debatte stehenden Sache verletze ich nicht meine Pflicht, also auch nicht mein Recht. Denn mein Recht besteht darin, Gutes zu tun, mich selbst zu vergessen und zu opfern. Ich handle also nicht unklug, wenn ich versöhnlich bin in Detailfragen…“ Erweckst du aber nicht den Eindruck, dein gutes Recht zu vernachlässigen, wenn du nachgibst? Nun, mit Güte und Wohlwollen wirst du hundertmal mehr erreichen als wenn du dein Recht „mit Krallen und Schnabel“ verteidigst. Daran soll man uns Oblaten erkennen und von allen anderen unterscheiden können. Seien wir gütig! Gütige Menschen sind wahrlich nicht dumme Menschen, das könnt ihr mir glauben. Ein gütiger Mensch hat oft viel Charakter, Geist und Urteil. Man gibt dem alles, der nichts fordert, und nimmt dem alles, der gebieterisch verlangt. So wollen wir es halten.
In S.C. gibt es einen Direktor, den man nur empfehlen kann. Gebt ihm aber einen Geistlichen zur Seite, der nur auf sein Recht pocht, dann ist alles aus… „Ohne die Oblaten wäre das ganze Werk zusammengebrochen“, sagte mir der Herr L. Dieser Geistliche, Pater D., steigt eines Tages auf die Kanzel, um seine Ansprache zu halten. „Liebe Kinder“, begann da der Direktor an zu reden, „der Pater möchte euch folgendes sagen: 1. dies, 2. das, und 3. jenes…“ Und in diesem Ton spricht er eine halbe Stunde lang. Als er endlich den Mund zumacht, steigt auch der Pater von der Kanzel, ohne den seinigen geöffnet zu haben. Hat nun der Laiendirektor nicht die Rechte des Priesters schwerstens verletzt? Zweifellos. Aber er hat gut gesprochen, ist zufrieden, die Kinder sind es auch, und der Hausgeistliche nicht weniger. Stellt er doch fest, dass viel Gutes geschieht. Er ist zufriedener, als hätte er die schönste Predigt der Welt gehalten.
Diese Taktik ist in den Apostolatswerken anzuwenden. Hast du eine Frauengemeinschaft zu leiten, so lasse jene Frauen, die die Verantwortung für sie tragen, alles tun, was nicht schlecht ist, alles, was nicht allzu ungeheuerlich ist – ein bisschen Ungeheuerlichkeit schadet nicht… Glaubt mir, ihr büßt nichts von eurer Autorität ein, im Gegenteil. Verhaltet euch so, weil wir Oblaten vielleicht die einzigen sind, die so handeln. Es ist dann eben unsere Spezialität!
Jedenfalls gehe ich als Oblate lieber von mir aus zu meinem Oberen zur Rechenschaft, als dass ich mich von ihm zurechtweisen lasse. Das ist für mich wie für ihn angenehmer. Du zwingst damit deinen Oberen, seine Pflicht zu erfüllen und erleichterst sie ihm. Ordensleute tun immer gut daran, ihren Oberen zu unterstützen. Sagt ihm eure Angelegenheiten einfach und treuherzig. Du hast dich fortreißen lassen gegen den oder jenen, handelst wenig liebevoll in dieser oder jener Sache. So sag es ihm. Unser hl. Stifter legte jeden Abend Herrn Michel demütig seine Rechenschaft und Beichte ab. Raffen wir uns also zur gleichen Einfachheit und Ehrlichkeit auf! Hegen wir alle die gleiche Gesinnung und machen wir uns entschlossen daran, die Rechenschaft zu üben. Ich lade euch herzlich dazu ein.
D.s.b.
