Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 11.12.1889: Über die Beschauung

Im letzten Kapitel sprachen wir über die Betrachtung. Lasst uns heute überlegen, wie wir am besten unsere Besuchungen des Allerheiligsten halten können.

Wir besuchen da unseren Herrn in seinem Gezelt. Er weilt da, wie er bei Maria und Martha, im Abendmahlssaal und am Ölberg geweilt hat. Ja hier sind wir in seiner Gegenwart noch sicherer, weil in Zönakulum und in Gethsemane seine Jünger noch Zweifel und Befürchtungen hegen konnten. Die Gnade des Hl. Geists war noch nicht über sie herabgekommen. Ihr Glaube war noch nicht gefestigt, wie er es bei uns sein muss. Wir brauchen nicht das Gebet zu sprechen, das sie dem Herrn vortrugen: „Herr, vermehre in uns den Glauben.“ Wir wissen, er ist da, wissen auch, wer und was er ist. Gehen wir also hin und besuchen wir unseren Herrn, wie die Jünger es taten. Suchen wir seine Nähe, wie die Kranken, Blinden, Schwachen ihn umdrängten und bei ihm Heilung suchten. Eröffnen wir ihm unsere Nöte und erbitten wir bei ihm Hilfe. Ruft der Herr uns zur Beschauung seiner göttlichen Geheimnisse, seiner Vollkommenheiten und Heilstaten, so folgen wir diesem Zug und geben uns eben der Beschauung hin. Haben wir diese Gabe nicht, dann statten wir ihm ganz einfach unseren Besuch ab, sagen ihm, was wir heute getan und nicht getan, was unser Tagewerk an Gutem und Schlechtem aufwies. Es soll keine eigentliche Gewissenserforschung sein, sondern eine liebende Aussprache… Unsere Schüler machen ihre Hausaufgaben schlecht, passen nicht auf, geben uns Grund zur Klage. Wem sollten wir dies alles anvertrauen, wem sonst unsere Anliegen und Sorgen vortragen? Das mag komisch klingen, mit Gott über all diese Dinge zu sprechen, ist es aber in Wirklichkeit nicht.

Unser Herr ist Emmanuel – Gott mit uns. Wo ist er uns aber näher als im hl. Sakrament? „Euch nenne ich meine Freunde. Denn ich habe euch kundgetan, was ich vom Vater gehört habe.“ Zwischen mir und euch gibt es also keine Scheidewand. Er ist Gott-mit-uns, Gott-unser-Freund. Jesus Christus, der uns alles offenbart, was er von seinem Vater weiß. Wir können gar nicht anders, als zu ihm gehen, weil er gerade für uns hier im Tabernakel weilt. Klopfen wir also an die Tür seines Gezeltes, wie ein Bettler an die Tür des Reichen klopft. Warum bleibt die Gnade so unfruchtbar und nutzlos bei einer Großzahl von Christen, sogar bei vielen Priestern? Weil man mit Gott nicht umzugehen versteht. Weil man ihn irgendwie wie einen Fremden nimmt. Man verhandelt mit ihm gleichsam durch Vermittlung eines Gesandten, eines Bevollmächtigten. Gehen wir doch unmittelbar zu ihm, tragen wir ihm alles vor, was uns berührt, alle Sorgen unseres Amtes. Die Heiligen haben es nicht anders gemacht. Auf diese Weise machte der hl. Alfons seine Besuchungen vor dem Allerheiligsten, auf dieselbe Weise die Gute Mutter… Die Betrachtungszeit war für sie mehr eine Beschauung. Beim Besuch des Allerheiligsten hingegen besprach sie mit Gott all ihre Angelegenheiten. Sie genoss einen hohen Grad von Beschauung. Sind wir einmal auf dieser Höhe angelegt, dann dürfen wir unsere Betrachtungszeit auf die gleiche beschauliche Weise verbringen.

Kontemplation (Beschauung) ist etwas sehr Schönes, ist die Tätigkeit der Engel im Himmel, ist die Nachspeise beim Gastmahl unserer Seele, ist Champagner, den uns Gott selbst kredenzt, nachdem er uns mit gewöhnlichen Gerichten gesättigt hat. Will man aber ausschließlich von Champagner leben, so läuft man Gefahr, sich nicht lange seiner Gesundheit zu erfreuen. Gewiss zeichnet Gott manche Seele mit der Gabe der Beschauung aus – eine große Gnade! Aber es heißt wohl unterscheiden, ob sie auch wirklich von ihm ausgeht. Eine Seele, die sehr rein geblieben, hohe Tugenden geübt und sich dann zur Beschaulichkeit hingezogen fühlt, kann beruhigt sein. Andernfalls kann es aber zur gefährlichen Selbsttäuschungen kommen. Wir hatten hier einen Schüler, der als außergewöhnlich fromm galt… Er wurde später ein Erzschelm, ein Lausejunge der schlimmsten Sorte. Um auf dem Weg der Beschauung zu wandeln, heißt es gut erfassen, was Tugend, Pflichterfüllung, Aufgabe seiner selbst und Hingabe an Gottes Willen, Losschälung vom eigenen Urteil, Demut bedeutet. Ohne das wäre eine Vorliebe für die Beschaulichkeit sehr gefährlich. Bedienen wir uns also der Mittel, die uns der hl. Stifter und die Satzungen an die Hand geben. Machen wir gewissenhaft unsere Besuchungen beim Allerheiligsten, in aller Ehrerbietung und Anbetung, aber auch in aller Freundschaft. Öffnen wir dem eucharistischen Herrn unser Herz und vertrauen wir ihm alles an, was unsere Schüler und unser Amt betrifft – angefangen von einem Brett, das wir zu hobeln, bis zu einer Unterrichtsstunde oder einer Predigt, die wir zu halten haben. So verstanden, wird die abendliche Besuchung zu einem wertvollen Mittel, die Fehler des Alltages gutzumachen. Wir bitten Gott dabei um Verzeihung, reinigen unser Herz, verbringen eine gute Nacht und beginnen den kommenden Tag mit mehr Eifer und Treue.

Die Gute Mutter gab sich, wie gesagt, während der Betrachtungszeit gern der Beschauung hin, aus ihrer Besuchung machte sie hingegen ein liebendes Zwiegespräch mit dem Herrn. Über alles, was sie getan oder noch zu tun hatte, ging es dabei. Gerade bei diesen abendlichen Aussprachen erhielt sie alles Licht, um einen erbetenen Rat geben zu können, um für diesen oder jenen Fürsprache einzulegen, oder auch die Lösung schwieriger Probleme zu finden. Oft gestand sie mir: „Am Abend ist unser Herr ganz Emanuel, Gott-mit-uns. Da lässt er sich in die Einzelheiten, unseres Lebens, unseres Handels, unserer Schwierigkeiten ein, überhaupt in alles, was uns berührt.“ Dem lieben Gott darum unsere Aufwartung zu machen, muss uns nicht als etwas Außergewöhnliches anmuten. Es muss uns ebenso natürlich vorkommen wie wenn wir bei unseren Büchern sitzen, vor unseren Schülern stehen, uns den Alltagsaufgaben unseres Amtes widmen. Wir brauchen gar nicht „anders“ zu werden. Diese Viertelstunde bei Gott darf uns nicht langweilig oder lang vorkommen. Habt ihr es einmal auf diese Art versucht, so werdet ihr erkennen, wie innig uns das mit Gott vereinigt, welche Gnaden wir daraus ziehen, welch offenkundigen Schutz das auf unser Tun und Lassen herabzieht. Natürlich brauchen wir diese spürbaren Gunsterweise und Aufmerksamkeiten Gottes in tausend Kleinigkeiten unseres Alltags nicht gleich als „Wunder“ bezeichnen. Wir nehmen sie vielmehr als Geschenke seiner Liebe und seines Wohlwollens, das uns vorkommt, uns begleitet und stärkt.

Noch einmal: am Abend empfing die Gute Mutter die meisten fühlbaren Gunsterweise Gottes, seine Gnaden auch im materiellen Bereich, eben weil sie sich in diesen Augenblicken über all diese natürlichen Dinge mit Gott unterhielt. Am Abend gab ihr Gott z.B. seine Offenbarung über den „Kanal“ (der durch den Garten der Heimsuchung gebaut werden sollte). Da sagte er ihr alles, was sie zur guten Leitung eines Hauses benötigte. Diese Augenblicke des innerlichen Betens reservierte sie für besonders wichtige ihre Familie, fand sich in Gedanken mit ihnen vereint, zu Füßen des Allerheiligsten ein, kam ihnen aus der Ferne zu Hilfe. Da gedachte sie im Fürbittgebet der armen Seelen im Fegefeuer. Mit einem Wort: bei dieser Besuchung am Abend sprach sie sich mit Gott über alles aus, was sie innerlich berührte und bewegte. Das sollte auch unsere Art der Besuchung werden.

Man könnte hier wohl einen Einwand vorbringen, der jedem aufsteigt, der auf den Wegen des hl. Franz v. Sales Fortschritte macht: „In allem, was Sie (Anm.: „gemeint ist P. Brisson“) uns da anraten, geht unser Geist leer aus. Wir könnten durchaus verstehen, dass man auch seine Betrachtung mit Hilfe eines Buches macht, welches soliden Stoff zum Nachdenken bietet. Z.B. Betrachtungsbücher über die Hl. Schrift, die Kirchenväter, etc. Sie aber geben uns nur ein kleines Büchlein, Ihr Direktorium, das sicher nicht schlecht ist, das aber unserem Verstand so wenig Anregung liefert…“ Darauf antwortete ich: „Alles, was in der Hl. Schrift und den Kirchenvätern steht, ist sehr gut.“ Studiert es gründlich und nährt euren Geist damit. Habe ich aber eine Viertel- oder halbe Stunde zur Verfügung, wo ich meinem Herrn mein Herz ausschütten kann in trautem Zwiegespräch, soll ich mich ausgerechnet dann dem Studium hingeben und nur meinen/seinen (?) Verstand zum Reden bringen? Habe ich da nicht sehr viel anderes dem Herrn anzuvertrauen? Ganz bestimmt, ich habe ihm viel zu sagen, was ich nicht in noch so frommen und gelehrten Büchern der Dogmatik und Mystik finde.

P. Clemens, der Benediktinersekretär des Bischofs Mermillod, hat recht mit seiner Behauptung, Franz v. Sales sei der beste Stratege des geistlichen Lebens. Kein Zweifel: seine Mittel, so bescheiden und unansehnlich sie sich ausnehmen mögen, besitzen alle Kraft, schnell, vollständig und sicher zu Gott zu führen. Die Theologie ist gewiss eine hervorragende Wissenschaft, mit der wir uns nie genug befassen können. Aber betreiben wir Theologie, wenn es an der Zeit ist! Zurzeit des Gebetes, der Betrachtung, der Besuchung aber unterhaltet euch mit unserem Herrn, besucht ihn wie man einen Freund besucht. Jedes Ding an seinem Platz und zu seiner Zeit! Das vereinigt uns mit Gott, lässt uns den Willen Gottes über uns ohne Irrtum erkennen.

Der hl. Alfons schloss seine Besuchungen des Allerheiligsten immer mit der geistlichen Kommunion ab. Dafür bietet er vortreffliche Gebetsformeln an. Gebraucht diese oder auch andere, die eure Frömmigkeit euch eingibt. Nach zehn Minuten stillen Zwiegesprächs vor dem Allerheiligsten können wir mit der geistlichen Kommunion beginnen. Sie prägt unserem Gebet und unserer Vereinigung mit dem Heiland das Siegel auf.

D.s.b.