Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 04.12.1889: Über das Direktorium und die Betrachtung

„Um sein Tagewerk zu heiligen, befolge jeder gern und genau das geistliche Direktorium.“

Die Satzungen verpflichten uns, das Direktorium zu halten. Genauigkeit allein genügt dafür nicht, wir sollen unsere Liebe dazu tun. Am Direktorium sollten wir hängen, sodass es uns mehr als eine bloße Pflicht bedeutet. Es sollte uns zu einem Bedürfnis, zu unserem Troste werden.

Ich sage noch einmal: Das Direktorium ist das wirksamste Mittel, sich zu heiligen. Jeder aus Ausnahme hat es in der Hand, sich das Vorgehen des hl. Franz v. Sales zu eigen zu machen: Er war ein begnadeter Seelenführer. Wer seinen Ratschlägen folgt, gelangt mit Sicherheit dahin, wo Gott ihn haben will. Als Erinnerungszeichen für all das, was wir jeden Tag zu tun haben, bedienen wir uns eines Zettels im Direktorium. Das erleichtert uns die Übersicht und die Rechenschaft darüber, ob wir mit dem lieben Gott in Übereinstimmung leben. Es ist unsere geistliche Bestandsaufnahme.

„Das Aufstehen ist um fünf Uhr. Aufstehen, Morgengebet und Betrachtung dauern zusammen eine Stunde.“

Über die Betrachtung will ich heute nicht viel sagen. Ihr wisst, was ich vor allem den Anfängern rate: dass sie ihr Tagewerk mit dem lieben Gott im Voraus besprechen sollen. Wir legen es uns positiv zurecht, indem wir die Tugendakte voraussehen, die wir da vornehmen können. Auch negativ sollen wir es vorbereiten, d.h. wir denken an die Fehler, in die wir dabei am häufigsten fallen. So gehen wir eine Übung unseres Alltags nach der anderen durch.

Die Betrachtung soll aber keine bloße Gewissenserforschung oder eine einfache Vorbereitung auf den Tag sein, sondern eine richtige Unterhaltung mit Gott. Darin liegt ja das Wesen der Betrachtung: ein liebevolles Zwiegespräch mit Gott über das, was wir brauchen und was wir zu tun haben. Ein Kaufmann sieht des Morgens seine Gewinne und Verluste voraus, ein Gärtner das, was er in seinen Garten pflanzen will. Er denkt sogar des Nachts darüber nach.

Vor einiger Zeit bot ich unserem Gärtner aus der Nachbarschaft an, die Sorge für den Garten von St. Bernhard zu übernehmen. „Das geht nicht“, wehrte er ab, „sonst kann ich überhaupt nicht mehr schlafen. Die halbe Nacht grüble ich schon darüber nach, was ich in meinem eigenen Garten pflanzen will. Nehme ich den Ihren noch dazu, geht die Hälfte der Nacht auch noch darauf.“ Beschäftigen wir uns also, meine Freunde, auch ein wenig mit unserem Seelengärtlein. Die Mühe lohnt sich. Ich empfehle den Seelenführern sehr, diese Methode zu pflegen. Zu dieser Art Betrachtung ist jeder befähigt und müsste es folglich auch tun.

Soll das heißen, wir müssten immer so rigoros vorgehen? Nein. An einem Festtage, bei einer besonderen Gelegenheit oder wenn wir eine außergewöhnliche Gnade empfangen haben, sprechen wir eben darüber mit dem lieben Gott und danken ihm dafür. Entscheidend ist, dass wir Gott in die Mitte unserer Angelegenheit stellen, und das beste Mittel hierfür ist, sich gewohnheitsmäßig mit Gott darüber zu unterhalten.

Liest man Leben und Briefe des hl. Vinzenz v. Paul, so stellt man fest, dass auch er seine Betrachtung in dieser Weise verstanden hat. Er unterhielt sich mit dem lieben Gott über seine Reisen, die er nach Troyes oder von Troyes nach Arcis oder Nognet machen wollte, um Korn für seine Armen zu sammeln. Mit Gott bereitete er seine materiellen Geschäfte vor und durchflichtt sie mit dem übernatürlichen. Unser Leben setzt sich aus Stofflichem und Geistigem zusammen. Wir dürfen uns da nicht aufs Geistige allen beschränken, wir sollten vielmehr das Materielle vergeistigen. Ein Lehrer hat z.B. einen schwierigen Stoff in seiner Klasse durchzunehmen. Darüber spricht er sich mit dem lieben Gott in der Betrachtung aus: „Mein Gott, gib mir Einsicht, sei mit mir und meinen Schülern, liebe uns, mein Gott und erzeige uns deine Liebe in dieser Klasse.“ Auf diese Weise heißt es mit Gott umgehen, dann ist er uns kein Fremder. Und so machen wir auch unsere Betrachtung. Du vernachlässigst z.B. einen bestimmten Punkt des Direktoriums. Warum nicht Gott in der Betrachtung um das nötige Licht bitten, treuer zu werden? Alle unsere Verpflichtungen, unsere Arbeiten, auch die Prüfungen, die Gott uns schickt, sie alle können uns als Betrachtungsstoff dienen.

Die Betrachtung besteht darin, über Glaubensgeheimnisse und Glaubenswahrheiten nachzudenken. Fühlen wir uns zu dieser Art von Betrachtung hingezogen, so folgen wir diesem Zug. Da naht das Weihnachtsfest heran: Möchten wir nun gern über die Geburt unseres Herrn, über seine Demut und Liebe nachsinnen, so ist das sehr gut. Vorausgesetzt, unser Herz gehört dem lieben Gott. Mehr braucht es nicht dazu. Halten wir aber gerade Anfänger dazu an, als Betrachtungsweise die Vorbereitung auf den Tag vorzuziehen, und vergessen wir nicht, dass man lange Zeit Anfänger bleibt. Für diese Art zu betrachten können wir jedermann gewinnen.

„Aufstehen, Morgengebet und Betrachtung dauern zusammen eine Stunde.“

Diese Stunde wird uns nicht zu lange vorkommen, wenn wir sie auf diese Weise verbringen. Ziehen wir aber eine andere Betrachtungsart vor, so mag das Verdienst, dass wir uns dabei etwas Gewalt antun, groß und schön sein. Doch der Enderfolg wird in der Praxis nicht viel Wert haben. Das möge jeder gut verstehen. Im Laufe meiner ganzen Seelsorgepraxis sah ich Seminaristen Betrachtung halten. Auch meine Priester und Ordensleute kannte ich, die betrachteten. Jedoch niemals Laien. Vielleicht zwei oder drei Männer versuchten meines Wissens am Morgen zu betrachten. Frauen dagegen geben sich überhaupt nicht damit ab, es sei denn, sie sind etwas verstiegen und exaltiert, also wunderliche Originale. Das habe ich erlebt, das ist meine Erfahrung – vielleicht hatte ich kein sonderliches Glück…

Versteht mich wohl: ich verwerfe diese diskursive (nachdenkende, studierende) Betrachtungsmethode nicht. Die sie fertig bringen, machen sicher eine gute Betrachtung. Es ist ein ausgezeichnetes Studium der Religion. Nur ist es noch nicht das innere Gebet, das die Seelen heiligt.

Führt die Seelen also zum inneren Gebet. Haltet sie an, ihre Zeit nicht zu vergeuden, nicht in unfruchtbaren Anstrengungen ihre Kräfte zu verzetteln, sondern sich liebevoll mit Gott zu unterhalten. Sie werden euch verstehen und daran Freude gewinnen, trotz der Mängel und Vorurteile ihrer früheren Erziehung. Sie werden tun, wie Franz v. Sales, Franziska v. Chantal, Vinzenz v. Paul und Alfons v. Ligouri getan haben. Auch Aloysius pflegte das innere Gebet, bevor er zu den Jesuiten ging. Nur aus Gehorsam änderte er im Noviziat seine Methode.

Ich empfehle euch dringend, für unsere Patres von Pella zu beten. Sie haben in diesem Augenblick große Schwierigkeiten. P. Simon war während eines ganzen Monates schwer krank. Auch P. Becoulet hat viel zu leiden. Denken wir viel an sie.

D.s.b.