Kapitel vom 31.10.1889: Zielsetzung und Arbeitsweise gemäß dem Plan unseres heiligen Stifters, über Demut und Sanftmut
„Zielsetzung und Arbeitsweise in unserer mannigfachen Seelsorgetätigkeit… sollen dem Plan unseres hl. Stifters entsprechen…“
Der Plan unseres seligen Vaters ging dahin, aufrichtige Christen herauszubilden. Der Teufel ist der Vater der Lügen. Überall, wo er seinen Einfluss geltend macht, arbeitet er mit der Lüge und verscheucht die Ehrlichkeit. Woran es den Christen unserer Zeit vor allem gebricht, auch jenen, die ins Kloster gehen, ist diese Aufrichtigkeit, das ehrliche Gewissen.
Aufrichtigkeit tut not im Verhältnis zu uns selbst, damit uns Gott die Gnade verleiht, auch die anderen zur gleichen Ehrlichkeit zu führen. Denn Gnade wird uns nur zuteil, wenn wir sie selber durch unser Tun herabziehen. Wir müssen darum streng uns selbst beurteilen, uns nichts vormachen über unser Sein und Wesen, ehrliche Gewissenserforschung mittags und abends halten und uns nicht überschätzen. Ja, unser Gewissen sollen wir mit aller Einfachheit und Ehrlichkeit durchleuchten, indem wir unser Arbeitsfeld, unsere Gedanken und Handlungen prüfen. Da geht es nicht um Verrenkungen der Demut, sondern einzig darum, die Wahrheit zu erkennen. Ein persönliches ehrliches Gewissen ist Vorbedingung, auch andere zur Ehrlichkeit zu erziehen.
Noch einmal: Die Zahl solch ehrlicher Christen ist gering. Gewiss sollen wir die Schwachen schonen. Es gibt Vorurteile, auf die wir Rücksicht nehmen müssen, wenn wir unsere gute Absicht mit ihnen erreichen wollen. In solchen Fällen wollen wir tun, was die Klugheit gebietet und soweit gehen, wie es Gottes Gebot erlaubt. Je mehr Boden wir bei ihnen gewinnen, umso resoluter können wir die Seelen zu jener vollen Wahrhaftigkeit lenken, die keiner Selbsttäuschung mehr erliegt, sondern ganz wahr ist gegen das Gebot Gottes wie gegen die eigenen Pflichten. Das sei unser besonderer Wesenszug! Um diese restlose Ehrlichkeit wollen wir den lieben Gott bitten. Natürlich werden wir die Seelen, die uns nicht mit dieser vollen Offenheit gegenübertreten, nicht von uns stoßen. Es ist ja die Folge ihrer Schwäche oder Leidenschaft oder gar ihres körperlichen Unvermögens. Man hat einfach nicht die physische Kraft, sich ständig der Wahrheit zu stellen. Beweisen wir dann Geduld und nehmen wir Rücksicht, wenn wir das Ziel erreichen wollen, das uns der hl. Stifter gesteckt hat, nämlich eine rückhaltlose innere Ehrlichkeit zu erreichen. Ich rate euch, auch bei euren Schülern so vorzugehen. Macht ihnen begreiflich, dass Ehrlichkeit eine Pflicht ist, und es nicht angeht, das eine anzunehmen, das andere abzulehnen, dass sie vielmehr mit allem Freimut ihre Fehler eingestehen und sich ganz einfach darüber anklagen sollen… Ja, diese Ehrlichkeit ist eine seltene Pflanze auf unserer Welt, darum besteht unser hl. Gründer mit solchem Nachdruck auf ihr. Er hat sein ganzes geistliches Gebäude auf sie gegründet. Konnte er denn ein solideres Fundament finden als die Wahrheit? Es mag noch andere Möglichkeiten geben, sich abzutöten – die zweifellos auch ihr Gutes an sich haben. Aber mit ihnen wird man nicht so rasche Fortschritte erzielen wie mit denen des hl. Stifters, sondern man läuft Gefahr, hundert Jahre zu spät zu kommen.
Die Hochherzigkeit. Sie besteht darin, für den Mitmenschen ein weites Herz zu haben, für ihn unsere Geldbörse zu öffnen, falls wir eine haben. Das einzige Gut, das wir als Ordensleute opfern können, sind unsere Neigungen und unser eigener Wille. Meine Freunde, schenkt man etwas weg, dann gehört es einem nicht mehr: das bedeutet Verzicht. Geben wir darum ohne langes Zögern und Rückblicke auf uns selbst. Das wird den Frieden und die Liebe in uns mehren. Geben wir unsere eigene Meinung auf oder machen wir sie wenigstens nicht geltend, wenn es nicht unbedingt sein muss. Damit üben wir größere Hochherzigkeit als schenkten wir unsere gefüllte Börse her.
Zu diesem Großmut müssen wir auch unsere Schüler anhalten, dass auch sie gerne geben und für die Anliegen des Gottesreiches spenden. In der früheren Erziehung spielte Almosengeben eine große Rolle. Aber heutzutage hat ja niemand mehr Überfluss, leidet sogar Mangel am Notwendigen… Selbst mit einer Rente von 50.000 Franken macht man noch Schulden… und greift das Kapital an. Sprechen wir also nicht mehr von „Überfluss“, da niemand mehr zugibt, solchen zu haben. Haltet aber dennoch unermüdlich zum Großmut an. Wer viel besitzt, soll viel geben. Wer wenig besitzt, möge auch davon frohen Herzens abgeben. Bringt man Kinder und Jugendliche soweit, dass sie sich in jeder Hinsicht großmütig und freigebig verhalten, nicht nur von ihren Ersparnissen geben, sondern auch von ihren Neigungen und ihrem Eigenwillen abrücken, dann hat man wahrlich ein vortreffliches Werk vollbracht.
Glaubensstärke. Auch hier gilt, dass man zuerst selber einen lebhaften und festgegründeten Glauben besitzen muss, bevor man andere darin unterweisen kann. Die solide Basis für einen festen Glauben ist die Geschichte, die Religionsgeschichte. Hat man darin einen tüchtigen Lehrer gehabt, so steht unser Glaube auf einem festen Fundament. Wir haben dann feste Überzeugungen, die kein Einwurf unserer Gegner erschüttern kann. Nehmt darum die religiöse Unterweisung sehr ernst. Habt ihr Religionsunterricht zu erteilen, Katechesen und Predigten zu halten, dann wählt solide und klare Argumente und Fakten aus, die eine sichere Grundlage bilden können. Denn ihr sollt glaubensstarke Menschen erziehen und ihnen echte Liebe zum Göttlichen einflößen. So handelte unser hl. Gründer: er pflanzte den Seelen einen unerschütterlichen Glauben ein.
Ihr seht ja selbst, welche Landstriche bei uns treu katholisch geblieben sind: Es sind jene, die in der Lehre des hl. Franz v. Sales eingeweiht waren: Savoyen und der Westen. In ihrer Wiedergewinnung für das Christentum fand sich bei diesen Völkerschaften äußerlich nichts Sensationelles, aber die Erfolge waren umso tiefgehender und überzeugender.
Die Losschälung. Sie ist eine große Tugend und eine Gabe Gottes. Wir müssen sie Schritt für Schritt erringen. An Gelegenheiten wird es uns nicht mangeln, von unserem eigenen Urteil, von unserer Sinnenlust, und unserem Ich loszukommen. Diese Tugend trägt die Seelen unmittelbar zu Gott und zum Nächsten. Ohne sie kein Christentum. Sie gründet einzig im Opfer. In den guten katholischen Familien werden die Kinder zum Opferbringen erzogen. Man hält sie an, nicht auf ihre eigenen Einbildungen zu achten, sich von ihren Neigungen loszureißen, nicht anmaßend zu sein und in den Dingen, die sich nichts angehen, ihr Urteil zurückzuhalten. So werden ernste und aufrechte Christen herangebildet. Wo aber jeder auf seine eigene Meinung pocht und nur sein Ich hervorkehrt, wird die Gesellschaft zu einer Herde von isolierten Individuen ohne jedes Zusammengehörigkeitsgefühl. Jeder schließt sich ab, arbeitet unabhängig von den anderen. Natürlich findet er dann auch keine Unterstützung und Hilfe bei den anderen. Solch eine Gesellschaft löst sich von selbst auf.
Demut und Sanftmut. Unser Herr gibt für dies beide Tugenden den besten Anschauungsunterricht: Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen. Die Demut des Geistes konnte unser Herr gar nicht üben, weil er als Gott sich nicht für den letzten und armseligsten der Menschenkinder halten konnte. Aber er besaß jene Demut, die ihn die eigene Kleinheit und Erniedrigung suchen und lieben ließ. Er verdemütigte sich vor seinem himmlischen Vater, vor den Mächtigen dieser Welt und erniedrigte sich im Häuschen von Nazareth, im Gehorsam gegenüber Maria und Josef. Darin fand er sein höchstes Glück. Die Demut hat auch wirklich nichts Entwürdigendes an sich, etwas, was niedrige Gesinnung oder ein niederträchtiges Herz verriete. Der hl. Augustinus sagte einmal: „Die Begierlichkeit beschränkt alles auf uns selbst, die Demut dagegen bezieht alles auf Gott und hebt uns über uns selbst hinaus. Sie bewirkt, dass wir über uns so urteilen.“
Die christliche Sanftmut ist das Zeichen echter Stärke. Es ist die Geschichte Samsona, der im Rachen des Löwen eine Honigwabe verborgen findet: auch in der Sanftmut liegen Stärke, Mut und Tatkraft beschlossen. Mit ihr bezähmen und überwinden wir alles. Die Worte des Herrn: „Lernet von mir…“ müssen in unseren Beziehungen zum Mitmenschen unserem Geist stets gegenwärtig sein: Dann werden wir sie im Alltag verwirklichen und sie such den anderen einpflanzen.
Möge unser Herr uns beistehen in der Übung dieser zweier Tugenden. Das wird kein leichtes Stück Arbeit sein.
D.s.b.
