Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 23.10.1889: Wissen und Anwenden der Lehre des hl. Franz v. Sales

„In der Seelenführung wird man sich mit Gottes Hilfe so viel als möglich an die Lehre und die Methode des hl. Franz v. Sales halten.“

Um sich an die Gedanken und die Methode des hl. Gründers halten zu können, bedarf es zweier Dinge: Wissen und Handeln, Studium und Praxis. Hätten wir in einer seminarähnlichen Umgebung gelebt, wo man uns in diesen Dingen unterrichtet hätte wie in einer Art Wissenschaft, dann besäßen wir dieses Wissen um die Gedanken und Methoden des hl. Franz v. Sales gleichsam „eingegossen“. So aber müssen wir sie eben selber studieren. Die hl. Regel will, dass wir täglich etwas aus den Werken unseres hl. Gründers lesen. Notieren wir uns, was uns dabei auffällt oder anspricht. Diese Methode, uns Notizen zu machen, wird uns große Dienste leisten für uns selbst wie für die anderen. Lesen wir immer wieder unseren hl. Stifter, um ihm die Kunst der Seelenführung abzuschauen. Seine Methode ist einfach: er streitet nicht, sondern erklärt. Damit stimmt er übrigens mit dem Evangelium überein, das ist ganz Stil und Weise des Evangeliums. Franz v. Sales spricht ohne Umschweife und mit größter Einfachheit. In seinem Unterricht gibt es keine Geheimnisse. Den Heimsuchungsschwestern, die ihn fragten, was zu tun sei, wenn Weltleute sie um Überlassung ihres Direktoriums uns bäten, antwortete er: „Gebt es ihnen doch! Ich wollte, die ganze Welt hätte es in Händen.“ – „Aber, das Direktorium ist doch nur für uns geschrieben, ist unser Eigentum.“ – „Ich wünschte, alle würden leben wie ihr und es üben.“

In der Lehre unseres hl. Gründers sollen wir gut bewandert sein. Studiert ihn darum gründlich. Wir brauchen deshalb die anderen Schriftsteller nicht auszuschließen. Sie haben ihr Verdienst und ihr Wert. Studiert auch sie, aber bezieht alles auf die Lehrweisheit des hl. Franz v. Sales. Gebraucht jedes Hilfsmittel, um eure Überzeugungen, die ihr aus den Werken des hl. Stifters schöpft, zu bestärken und zu vertiefen. P. Clemens, der Sekretär des Bischofs Mermillod, sagte mir einmal: „Der hl. Franz v. Sales ist der beste Stratege des inneren Lebens. Er gebraucht einfach Mittel, die jedermann zur Hand hat und erreicht damit sein Ziel. Er schreit nicht viel herum, regt die Phantasie nicht unnötig auf. Dafür ist das Werk, das er vollbringt, umso gesicherter und dauerhafter.“

Was die Überreizung der Phantasie betrifft – bei großen Bußübungen ist das ohne weiteres möglich – so müssen wir davor auf der Hut sein. Große Bußwerke haben viele Vorteile, sind aber mit Vorsicht zu genießen. Denn sie setzen eine starke und gesunde Konstitution voraus. Würden wir sie weniger kräftiger Naturen auferlegen, könnten sie darunter erliegen. Die Natur nähme Rache, ja sogar schreckliche Rache.

Die Methode unseres Gründers ist dagegen einfach und gradlinig. Sie verschmäht außergewöhnliche Mittel. Ich will damit nicht die großen Abtötungen rügen, sie haben ihre Vorteile und sind manchmal sogar notwendig. Nur sind sie mit Umsicht zu gebrauchen.

Für uns Oblaten besteht der Geist der Abtötung darin, die Mühe, die sich in jeder Handlung findet, anzunehmen. So wird unser gesamtes Tun mit dem Stempel der Abtötung versehen. Alles wird getan im Geist unseres hl. Gründers, in Abhängigkeit von Gott, im Gehorsam. Daraus fließt uns aber eine große Kraft zu.

Dieses Vorgehen gilt sowohl für materielle Dinge wie für die Akte des geistlichen Leben. Irgendjemand erzählte mir vor einigen Tagen von Kindern, die nicht nach den Grundsätzen des hl. Franz v. Sales, sondern nach einer sehr rauen Methode erzogen wurden. Trotz aller angewandten Sorgfalt und Wachsamkeit sei aus ihnen nichts geworden, von einem oder zweien abgesehen. Da erzielen wir mit unserer salesianischen Methode doch andere Erfolge. Mögen wir auch nicht auf der ganzen Linie Siege davontragen – in den Herzen der Kinder und der uns anvertrauten Erwachsenen wird dennoch, was an Großem und Edlem darin ruht, bewahrt und entfaltet werden. Die so erzielten Resultate wären mit der anderen Methode nicht erreicht worden.

Welche Landstriche Frankreichs haben bis zur Stunde am treuesten den christlichen Glauben bewahrt? Savoyen und der Westen. Savoyen wurde vom Geist des hl. Franz v. Sales geprägt, und der Westen hat den Einfluss des Bischofs Fenelon erfahren. Fenelons Lehre unterscheidet sich aber kaum von der salesianischen. Es ist eine milde Lehre, die die Bewohner der Vendee geformt hat. Diese braven, mutigen und beherzten Menschen waren Schüler des berühmten Kanzelredners und Erziehers Fenelon (1651 – 1715). Seine wie die des Genfer Bischofs Lehre nannte man mitunter Rosenwasser. Mag sein, aber dieses Rosenwasser formt Kämpfer, Löwenherzen, Menschen, die durchhalten und ihren Grundsätzen, allen Widerständen zum Trotz, treu bleiben.

Der hl. Franz v. Sales ist ein geschickter Stratege des geistlichen Lebens. Seine Art sieht vielleicht nach nichts aus und erreicht doch alles… In der Physik gibt es die Galvanoplastik: da nimmt man auch nichts wahr, und doch, welch ein Resultat! Beobachtet man den Vorgang unter der Lupe, so sieht man, wie sich winzige Teilchen vom Metall lösen und auf das am Boden liegende Stück zurasen. Ist der Vorgang beendet, dann umgibt den zu galvanisierenden Gegenstand im Behälter eine so harte Metallhülle, als wäre er in der Münzprägeanstalt geschlagen worden. Stößt man während des Prozesses an das Gefäß, so setzt der ganze Vorgang augenblicklich aus. Ebenso nimmt sich auch die Methode unseres hl. Gründers für die oberflächlichen Beobachter vielleicht unscheinbar aus und formt doch die solidesten und widerstandsfähigsten Charaktere. Auch der Wassermörtel ist für sich genommen nichts. Mit Sand vermischt bleibt er immer noch nichts. Lass ihn aber trocknen, dann wird er hart wie Stein. Mit der Lehrweisheit unseres hl. Gründers bringt man Vendee-Löwen hervor, formt man Heilige.
Lassen wir darum seine Lehre in unseren Beziehungen zu allen Menschen vorherrschen. Brüder üben Nachsicht und Geduld mit ihren kleinen Brüdern, wenn diese ihnen bei der Arbeit helfen. Nur so bildet man tüchtige Arbeiter heran, die sich einmal allen Widerständen gegenüber behaupten. Güte und Geduld erzeugt Kraft und Energie… Wir brauchen uns bei der Seelenführung nicht lange den Kopf zu zerbrechen, um andere Mittel zu finden als jene, die unser Gründer uns gegeben hat. Sie müssen nur mit Treue, Liebe und Hingabe angewandt werden.

Ich schließe mit diesem Gedanken: Halten wir uns ganz eng die Lehre unseres Ordensvaters. Dazu müssen wir sie aber zuerst an uns selbst praktizieren. Seien wir entschlossene Männer, die sich nicht scheuen, das Opfer ihrer eigenen Ideen und ihrer eigenen Natur zu bringen. Lernen wir auch auf die Gedanken anderer, auf den Gehorsam einzugehen. Dafür braucht es freilich ein weites, großmütiges Herz, frei von allem Egoismus. Geben wir uns dem Gemeinschaftsleben, den Gemeinschaftsaufgaben hin. Was uns abgeht, ist weniger die Liebe als vielmehr dieser Gemeinschaftsgeist. Was dieser oder jener Pater tut, geht mich nichts an… Dieser Standpunkt ist bei uns „Gang und Gäbe“. Er ist falsch. Was P. Rollin, P. Lambey tun, geht auch uns an. Der Geist der Liebe und der Einheit genügen nicht, wir brauchen den Gemeinschaftsgeist. Wir freuen uns nicht genug über das Gute und Mühen. Wir stehen gleichsam einer neben dem anderen. Da fällt mir das passende Bild ein: Wir gleichen ein bisschen den Marionetten, die an einem Faden hängend zum Klang der Vogelorgel tanzen. Soeben sah ich ihren Kontertänzen zu. Eine tanzt da neben der anderen, ohne sich gegenseitig zu berühren. Hat eine Marionette ein Bein gebrochen, stört das die andere nicht im Geringsten, sie tanzt lustig weiter… So sollten wir es nicht machen. Wir bilden doch mit unserer Ordensgemeinde eine Einheit des Geistes, der Seele und des Herzens, gleichgültig, wo der einzelne steht, in diesem oder jenem Haus, in dieser oder jener Mission. Seine Arbeit ist auch die unsrige. Wozu, fragt unser hl. Stifter, taugen Menschen ohne Herz, Menschen mit halbem Herzen? M. Harmel, der so viel Segen in der Arbeiterklasse stiftet, der schön und so ausgezeichnet vom lieben Gott spricht, wiederholt ständig die Worte: Geht mit eurem ganzen Herzen ans Werk! Arbeiten auch wir mit unserem Herzen. Auf diese Weise schafft man Großes, wird man mit allem fertig.

Beweist jedem eurer Mitbrüder ein reges Interesse. Seht ihr, dass ein anderer mit seiner Arbeit nicht zu Rande kommt, so unterstützt ihn mit eurem Gebet und eurer Mithilfe. Sagt nicht: Was kümmert das mich? Jedem vertraue er seinen Nächsten an. Das gilt umso mehr in einer Kommunität. Vermeiden wir peinlich den Geist der Nörgelei und der Kritik am Mitbruder. Es ist ja so leicht zu richten. Das dispensiert und dann, dem Mitbruder echtes Wohlwollen zu bekunden… Erbitten wir von Gott den wahren Geist des hl. Franz v. Sales, erbitten wir ein Herz, das sich für die Mitbrüder erwärmt und das mit Sympathie auf das Tun der anderen schaut. Amen.

D.s.b.