Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 14.08.1889: Die täglichen Verpflichtungen

„Die Tagesordnung muss in jedem Haus mit größter Pünktlichkeit beobachtet werden.“

Wenn ihr euch bei einem Fehler gegen die hl. Regel oder das Direktorium ertappt, sollt ihr euch nicht selbst die Lossprechung erteilen. Denn Satzungen wie Direktorium wurden uns gegeben, um befolgt zu werden. Während des Stillschweigens sprechen wir nicht und wir ändern auch nicht die Zeiteinteilung der einzelnen Übungen ohne Notwendigkeit. War man verhindert, seine Lesungen oder seine Gewissenserforschung zu machen, so benutzen wir den ersten freien Augenblick, sie nachzuholen. Unsere Morgen- und Abendandacht wollen wir ebenfalls gewissenhaft verrichten.

In jedem Haus soll die Tagesordnung mit größter Genauigkeit eingehalten werden. Kann einer eine bestimmte Übung gewohnheitsmäßig nicht zur vorgesehenen Stunde verrichten, wird er sie mit Erlaubnis des Oberen oder des Novizenmeisters auf eine passendere Zeit verlegen. Jedenfalls wird ein guter Ordensmann sein Tagewerk nicht beschließen, ohne alle Punkte der Tagesordnung beobachtet zu haben. So viele Übungen sind es ja gar nicht. Der Hausobere oder sein Assistent tragen dafür die Verantwortung. Schreibt man mir einen Brief, so möge man es nicht unterlassen, zunächst über seinen geistlichen Zustand Rechenschaft abzulegen. Die alten Bibliotheken wiesen folgende Ordnung auf: in den ersten Regalen standen die Bücher des Alten und Neuen Testamentes oder die Kirchenväter. Gott kam immer an erster Stelle, er war die Basis. Das sollte auch für eure Briefe gelten: die weltlichen Geschäfte sind ja ganz gut. Wir aber geben den Vorrang unserem Seelenzustand oder der geistlichen Verfassung des Hauses, für das ihr verantwortlich seid. Unsere Missionare tun das, ich habe sie daran gewöhnt. Die Rechenschaft sollte nämlich einen wichtigen Platz in euren Briefen einnehmen. Es geht hier um eine Lebensfrage.

Jeder soll große Pünktlichkeit und Exaktheit als ein Herzensanliegen betrachten. Die Ordnung führt zu Gott. Die Ordnung schränkt unsere Freiheit ein, und darin liegt ihr Wert und ihr Verdienst. Das vertritt bei uns die „Kasteiung“.

Die Satzungen bestimmen, dass eine allgemeine und bedeutende Abänderung der Tagesordnung der Genehmigung des Generaloberen bedarf. Daran wollen wir uns halten. Wir können nur Nutzen daraus ziehen, dass wir eine praktische und allgemein gültige Ordensregel haben, die jede einzelne Handlung durch den Gehorsam heiligt und der Natur des Einzelnen nicht gestattet, nach Belieben zu verfahren.

„Um sein Tagewerk zu heiligen, befolge jeder gern und genau das geistliche Direktorium.“

Wir haben ziemlich oft Gelegenheit, über das Direktorium zu sprechen als das ich mich hier lange dabei aufhielte. Ich empfehle euch von allen Übungen des Direktoriums vor allem die gute Meinung. Das Direktorium ist der Motor, die Triebkraft unseres Ordenslebens. Es lässt uns unsere Sendung erkennen, lieben und erfüllen. Liebe zu diesem Büchlein war die besondere Gabe der Guten Mutter. Diese Liebe muss auch unser Charakteristikum werden. Wir Oblaten haben die Bestimmung, den Heimsuchungsklöstern große Dienste zu erweisen, indem wir sie in die Praxis des Direktoriums einführen und zur Liebe zu ihm begeistern. Dafür müssen wir es aber zuerst selber lieben, es üben und uns bis in Mark damit durchdringen.

„Gleich beim Erwachen soll jeder sein Tun und Lassen nach dem Beispiel des hl. Franz v. Sales Gott aufopfern.“

Der vierte Artikel dieses Abschnittes unserer Satzungen bekräftigt unsere Pflicht, das Direktorium bereits beim Erwachen zu üben. Denn schon die Erstlingsfrüchte unseres Tagewerkes gehören Gott. Machen wir sorgfältig die gute Meinung. Sie ist etwas ganz Feines und Delikates. Man arbeitet und müht sich ja immer für das, was man liebt: für uns, wenn wir uns selber lieben. Für Gott, wenn wir ihn lieben.

„Wenigstens eine Viertelstunde sollen die Oblaten täglich dem Besuch des Allerheiligsten widmen.“

Den Sinn dieser Besuchungen heißt es wohl begreifen. Der hl. Alfons v. Ligouri hat ein vortreffliches Büchlein darüber geschrieben und bietet uns darin viele fromme und schöne Gedanken. Der hl. Alfons hegt eine große Andacht zum heiligsten Altarsakrament wie zur seligen Jungfrau und hat diese ganze Hochschätzung in sein Büchlein hineingelegt. Ich halte deshalb so ganze Stücke davon, weil ich es selbst benutzt habe. Die Gläubigen wie die Priester werden aus seinem Gebrauch großen Nutzen ziehen. Große Andacht zum hl. Sakrament und ungeheures Vertrauen auf unseren Herrn werden wir daraus schöpfen. Ich kann es euch nur empfehlen.

„Nach dem Vorbild ihres hl. Stifters werden sich die Oblaten bemühen, immer und überall in Gottes Gegenwart zu wandeln.“

Soll das heißen, dass wir beständig unsere Gedanken auf Gott richten und uns mit ihm beschäftigen müssen? Das wäre nicht einmal möglich. Der gewohnheitsmäßige Wandel in Gottes Gegenwart besteht vielmehr in einem inneren Akt des Willens, sich nicht von Gott trennen und alles für ihn tun zu wollen. Das wird im Allgemeinen nicht ganz richtig verstanden. In Gottes Gegenwart verharren kann gar nicht ein unablässiges Hingespanntsein unseres Geistes auf Gott bedeuten. Das hieße das Leben der Heiligen missverstehen. Nicht ein Akt unseres Verstandes macht uns Gott gegenwärtig. Ich denke da an die Aussetzung in Gottes Gegenwart? Der Wandel in Gottes Nähe kommt zustande durch die Grundeinstellung unseres Willens, für Gott zu arbeiten, mit ihm vereint zu bleiben, die gute Meinung von Zeit zu Zeit zu erneuern. Sie kommt zustande, wenn ich meine ganze Seele in Gott hineinwerfe und mich häufig zu ihm flüchte.

Erst im Himmel werden wir uns der wahren und vollständigen Gegenwart Gottes erfreuen kraft der „visitatio beatifica“. Sie ist nicht die Frucht einer Denk- oder Willensanstrengung, sondern ein übernatürliches Geschenk Gottes. Das Leben hienieden ist aber ein Abbild des künftigen. Hier machen wir unsere Lehrzeit durch, indem wir gewohnheitsmäßig in der Gegenwart Gottes verharren und für Gott und mit ihm arbeiten.

Verstehen wir also wohl, worin das Wesen des Wandels in Gottes Gegenwart liegt. Man hat diese Übung zu Unrecht schwierig, ja unmöglich gemacht, indem man sie zu einer Sache des beständig auf Gott hin gespannten Verstandes oder der Vorstellungskraft erklärte. Wenn gewisse Seelen in einem ununterbrochenen Denken an Gott leben konnten, müssen wir das als ein großes Privileg bezeichnen, mit dem die Allgemeinheit nicht rechnen kann.

Es geht hier um eine Grundwahrheit der Seelenführung. Übt treu euer Direktorium, überwacht und reinigt häufig eure inneren Absichten und haltet dazu auch die euch anvertrauten Seelen an: dann wandelt ihr und sie in der Gegenwart Gottes. Sie wird nicht Frucht eurer Willensanstrengung sein, sondern ein übernatürliches Geschenk Gottes, Anfang jenes göttlichen Sichschenkens, die sich in der ewigen Glückseligkeit vollendet.

D.s.b.