Kapitel vom 31.07.1889: Weitere Ratschläge zur Seelenführung
Noch ein Wort zum Thema der Seelenführung im Geiste und nach der Methode unseres seligen Vaters.
In der Leitung unserer apostolischen Werke wie in der Führung von Seelen dürfen wir nie einem Untergebenen recht geben gegen seinen Vorgesetzten, einer Klosterfrau gegen ihre Oberin, einem Sohn gegen seinen Vater, einer Tochter gegen ihre Mutter, einer Frau gegen ihren Mann. Alles muss sich vielmehr in der rechten Ordnung abspielen.
„Zielsetzung und Arbeitsweise in unserer mannigfachen Seelsorgetätigkeit, in den verschiedenen Vereinen und Jugendwerken sollen dem Plan des hl. Franz v. Sales entsprechen, der aufrechte Christen heranbilden wollte. Christen, die großmütig, glaubensstark, selbstlos, demütig und sanftmütig sind.“
Den jungen Leuten, Jungen wie Mädchen, sollen wir mit Vorzug jene Tugenden nahebringen, die die Satzungen nach den Empfehlungen des hl. Franz v. Sales hier aufzählen.
Zunächst die Aufrichtigkeit. Aufrichtig sein heißt wahr sein, wahr gegen Gott wie gegen sich selbst und gegen den Nächsten. In unserem Verhältnis zu Gott ist nur restlose Ehrlichkeit am Platz, ein gerades, unverbogenes Gewissen. Wir dürfen uns nicht selbst hätscheln und schmeicheln. Sind wir unzufrieden, ging uns etwas daneben, dann sollen wir nicht murren und klagen, sondern und ehrlich fragen: Wie habe ich mein Direktorium gehalten? Nehmen unsere Arbeiten nicht den gewünschten Verlauf, sei unser erster Gedanke: Misstraue dir selbst! Hab ich wirklich das Recht zu Klage? Rücken wir uns also zuerst immer selbst in die rechte Ordnung zu Gott, in die Ehrlichkeit gegenüber Gott. Hab ich Gottes Gesetz respektiert? Wie habe ich es erfüllt? Erst dann kommt alles Übrige. Ehrlichkeit gegen den Nächsten: Legen wir einen strengen Maßstab an uns selbst, anstatt unseren Bruder zu richten. Wer bist du, dass du richtest? Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge! Gib acht, dass du dich selber nicht belügst! Dann wirst du nachher keiner Täuschung erliegen in deinem Urteil über die anderen.
Aufrichtigkeit gebiert Frieden, weil sie in allem die rechte Ordnung herstellt. Fördert darum bei der Jugend mit allen Mitteln diese Aufrichtigkeit, kraft welcher sie Gerechtigkeit, rechte Ordnung und Achtung vor der Obrigkeit schätzen und lieben lernt. Übt z.B. ein Vater auf seinen Sohn einen schlechten Einfluss aus, so macht dem Sohn seine Pflicht begreiflich und erklärt ihm, dass sein Vater nur aus Unwissenheit handelte. Er werde von den besten Absichten geleitet. Zwar müsse er sich vor seinem schlechten Einfluss und seinen Ratschlägen hüten, schulde ihm aber dennoch stets Liebe und Hochachtung.
Wir brauchen ferner ein großmütiges Herz. Großmütig ist der, der seine persönlichen Ansichten und seinen Geschmack dem Gehorsam und der Liebe zum Nächsten opfert. Da bietet sich eine Gelegenheit zu einer Handreichung, zu einem Dienst, zu einer guten Tat: Nun heißt es einmal nicht an sich selbst denken, sondern an den Bruder neben mir. Salomon bat den Herrn um ein Herz, das weit sei wie das Meer, damit er hochherzig dem Bruder diene. Streben wir nach diesem meerweiten, großmütigen Herzen!
Glaubensstärke ist die dritte Eigenschaft, die wir bei uns und anderen vermehren sollen. Der Glaube ist eine übernatürliche Tugend, die uns unmittelbar von Gott eingegossen wurde. Erst muss er in uns selbst stark sein, allen voran in uns Priestern, bevor wir ihn bei den anderen verstärken können. Machen wir es wie die Gute Mutter. Legen wir in unser ganzes Leben und in jede unserer Handlungen diesen vertrauenden Glauben, der sie ständig wiederholen ließ: „Ich vertraue mich dir an, oh mein Gott.“ Um aber stark im Glauben zu werden, brauchen wir eine gründliche Unterrichtung. Wir müssen die Hl. Schrift wie die Heilsgeschichte von Grund auf kennen. Beide bilden das tragende Fundament unseres Glaubens. Ist die Geschichte des auserwählten Volkes nicht ein fortwährender Beweis für Gottes Eingreifen auf Erden, für seine Liebe und Vorsehung? Bitten wir oft am Altare Gottes gerade um diesen starken und ganz praktischen Glauben. Bitten wir darum bei unserem Morgen- und Abendgebet und vor dem heiligsten Altarsakrament.
Die Losschälung von uns selbst empfehlen uns die Satzungen und der hl. Stifter an vierter Stelle. Sie geht Hand in Hand mit unserer Hand an Gott. Das große Mittel aber, von sich selbst loskommen, ist: keine Abstriche machen in der Hingabe an Gott. Merkst du, dass du noch sehr an deinem Urteil hängst, so übe dich in der Liebe zum Willen Gottes, so wie er sich dir im Gehorsam offenbart. Jedenfalls wirst du andere nicht für die Losschälung begeistern können, solange dein Herz noch an etwas hängt.
Ferner wird uns die Demut ans Herz gelegt. Schauen wir auf das Beispiel unseres Herrn, um uns zu ermutigen, nach dieser schweren Tugend zu streben und vertrauen wir auf seine Gnade. Demut betätigt man, wenn man „Ja“ sagt zu den Demütigungen des Alltages. Über diese Tugend lässt sich sicher schön und gut betrachten. Doch die schönste Betrachtung besteht sicher darin, Hand anzulegen und jede Demütigung, die uns begegnet, willig anzunehmen.
Eine Dame erhielt eines Tages von ihrem Beichtvater die Weisung, über die Geduld zu betrachten. Sie tat es mit solchem Eifer, dass sie über die Schönheit dieser Tugend zu Tränen gerührt wurde. Ihr Dienstmädchen beging die Ungeschicklichkeit, sie während dieser erbaulichen Herzensergüsse zweimal zu stören. Da erhob sich die Dame von ihrem Betschemel und versetzte dem Mädchen eine schallende Ohrfeige… Stellen wir also über die Demut lieber Betrachtungen an, die mehr auf unser praktisches Verhalten ausgerichtet sind und nehmen wir gern die Demütigungen an, die uns nie fehlen werden.
Und zu guter Letzt wird uns die Sanftmut als Erziehungsziel empfohlen. Auch sie fällt uns nicht als reife Frucht in den Schoss. Wir müssen sie in täglicher Kleinarbeit zu erwerben suchen, bevor wir sie von anderen verlangen können. Nur ein Meister kann bekanntlich Lehrlinge ausbilden…
Wir haben zurzeit Ferien, meine Freunde. Entspannen wir uns im lieben Gott. Für die Brüder bleibt die Hausordnung ziemlich unverändert, da sich Ferien nicht in gleichem Maße für Handarbeit aufdrängen wie für die Geistesarbeit. Die Patres mögen ihre Zeit nicht vergeuden, sondern sich ernsten Studien hingeben. Insbesondere mögen sie ihren Unterrichtsstoff vorbereiten, damit bei Beginn des neuen Schuljahres ein Teil der Arbeit bereits erledigt ist. Ein Lehrer, der nur widerwillig unterrichtet, wird diese Unlust auch seinen Schülern mitteilen. Damit der Unterricht mit Lust und Liebe gehalten wird, muss man gut vorbereitet sein und seinen Gegenstand von Grund auf beherrschen.
Ich empfehle dem Gebet der Kommunität unsere neue Mission auf Naxos (Anm.: „griechische Insel mit 20.000 Einwohnern.“). Die Propagandakongregation ist nach mehreren Jahren wieder zum Angriff übergangen, und – was sie sonst vermeidet – hat uns fast befohlen, dieses Werk zu übernehmen. Warum das? Nicht wegen unserer bisherigen Leistungen, denn wir haben ja noch gar nichts geleistet. Sondern sie hat das Vertrauen, dass wir im Geiste des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter dort wirken werden. Das erwartet sie von uns, und wir wollen ihr Vertrauen nicht enttäuschen.
