Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 17.07.1889: Über die Seelenführung

„In der Seelenführung halte man sich mit Gottes Hilfe so viel als möglich an die Lehre und die Methode des hl. Franz v. Sales. Man betrachte das, was er getan, gesagt und gelehrt hat, als das beste…“

Um von der Lehre des hl. Franz v. Sales ganz erfüllt zu sein, muss man seine Werke lesen. Sein Theotimus und seine Briefe bilden ein reiches und lichtvolles Lehrgut. Dieser Lehrgehalt geht in uns aber nur dann ein, wenn man ihn liest und auch lebt. Denn diese Lektüre verlangt nach Anwendung im Alltag. Vor allem die treue Observanz garantiert uns eine solide Grundlage gediegenen Wissens und ermöglicht uns die Kunst der Seelenführung. Denn man kann nur das anderen weitergeben, worin man zuvor selbst eine Fertigkeit erlangt hat.
Dieses Studium des Lebens und der Lehre unseres Gründers darf aber nicht bruchstückhaft bleiben, sondern muss allumfassend sein. Denn nur wenn wir ihn ganz verstanden haben, können wir ihn überzeugend darstellen. Gewiss lebte Franz v. Sales in seiner Zeit und für seine Zeit, aber ich möchte behaupten, er lebt mehr noch in der unsrigen, weil seine Lehre heute allgemein anerkannt wird. Sie ist in die Seminarien eingedrungen, lebt im Munde und in den Herzen aller.

Insbesondere müssen wir danach trachten, seine Väterlichkeit, seine Liebe zu den Seelen und seine Geduld in der Seelenführung nachzuahmen, die Seelen gehören nicht uns. Es wäre ein schweres Vergehen, wenn wir sie dem lieben Gott entreißen und rauben würden, indem wir sie nach unserem Kopf leiten wollten. Es ist eine höchst bemerkenswerte Tatsache, dass jene Priester, die sich und ihre Ideen den Seelen aufdrängen und sie in eigener Regie lenken wollen, sich immer irgendwie außerhalb des geraden Weges bewegen. Wir sollen auf die Seelen nur wenig eigenen Einfluss ausüben wollen. Unseren persönlichen Einfluss sollen wir vielleicht in den Einfluss der Gnade übergehen lassen.

Der hl. Franz v. Sales ist ein geschickter Stratege. Immer betont er, wir sollten uns Gott anheimgeben, damit er schließlich allein schalten und walten kann. Nicht als ob wir untätig die Arme verschränken sollten, nein, wir sollten das Wirken Gottes durch unsere Mitarbeit unterstützen. Wir sind nur Gottes Gesandte. Nicht Vollmachtsträger, sondern Mittelspersonen zwischen Gott und den Seelen. Darum können wir nur in Gott finden, was wir den Seelen weitergeben sollen. Gott wollte nicht, dass die Christen sich selber die Sünden nachlassen und führen. Er gab ihnen Führer, die sie den Weg weisen zu ihm, der allein verzeihen und führen kann und soll. Wir bleiben immer nur Wegweiser. Das muss sich in der Seelenführung zeigen. In dieses göttliche Werk dürfen wir nicht zu viel von uns selbst hineinmischen. Wir sollen lediglich das ausführen lassen, was angeordnet und weil es angeordnet ist. Die große Wissenschaft der Seelenführung erschöpft sich darin, die Seelen anzuleiten, auf Gott hinzuhorchen, ihn handeln und seinem Antrieb folgen zu lassen.

Hier haben wir das ganze System unseres hl. Stifters vor uns, Menschen zu führen und Lebensverhältnisse zu meistern. Es kommt also in erster Linie darauf an, die Seelen darüber aufzuklären, was sie zu tun haben, was Gott von ihnen wünscht. Gefällt es Gott, die Seelen auf einem anderen Weg an sich zu ziehen, als es dem Seelenführer gut dünkt, so müssen wir ihm das einräumen. Dazu bedarf es in hervorragendem Maß der Gabe der Weisheit, die wir von Gott erbitten sollten: Gib mir, Herr die Weisheit als Helferin… dass sie bei mir stehe und mit mir arbeite. Weisheit wird uns aber nur zuteil, wenn wir darum beten und die Gnade treu gebrauchen. Die Treue, die uns diese Klugheit verschafft, ist für den Ordensmann alles. Geht er nach diesem Grundsatz vor, so wird er immer richtig handeln. Gerät ihm etwas wegen mangelnder Fähigkeit einmal daneben, wird Gott nicht zulassen, dass daraus Böses entstehe – vorausgesetzt, er ist ein guter Ordensmann.

Vertraut euch von Herzen den Händen Gottes an und habt große Hochachtung vor seinen Plänen mit den Seelen… Die Hilfsmittel und Hilfsquellen, die diese Seelen mitbringen, sollt ihr einsetzen für eine größere Wirksamkeit der Gnade in ihnen. Benutzt sie, um sie in den Vorsatz zu bestärken, auf Gott hinzuhören und ihn in ihren Seelen ungehindert arbeiten zu lassen.

Das ist die Zusammenfassung der Lehre unseres hl. Gründers, ist die Substanz seiner Moral. Das hat er selber in hervorragendem Maße praktiziert. Auch die Gute Mutter hat diese Wahrheiten in überzeugender Weise gelebt und gelehrt. Darum sah sie alles so klar und traf so vortreffliche Entscheidungen. Nie mischte sie sich in Gottes Pläne ein. Gott gab ihr diese Weisheit und herrschte durch ihre Mittlerschaft über die Seelen und Dinge. Weil es sich hier um einen so wesentlichen Punkt handelt, hat man ihn als besonderen Artikel in unsere Satzungen ausgenommen. Trachten wir also unablässig nach dieser Weisheit und Klugheit und vor allem nach dieser Hochherzigkeit. Sie soll uns von unseren persönlichen Ideen, Ansichten und Gefühlen losreißen, um Gott freie Hand über die Seelen einzuräumen.

Stellen wir uns voll und ganz auf diesen Standpunkt. Alles, was wir in Angriff nehmen, muss dieses Siegel tragen. Es ist das besondere Kennzeichen der Oblaten. „Da sind nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme.“ Wir brauchen nicht mächtig zu sein, wohl aber klug und voll der Weisheit Gottes. Ein kluges Urteil soll eurem Tun voranleuchten und euch helfen, um die Seelen und die Dinge recht zu lenken. Vor allem tut uns in der Seelenführung höchste Ehrfurcht not, dass wir aufmerksam auf den Zug der Gnade achten und auch die Seelen zu dieser Aufmerksamkeit auf die göttliche Eingebung anhalten. Was will Gott hier und jetzt? Das muss unsere beständige Frage und Sorge sein. Noch einmal: verstehen und merken wir uns das!

Nie dürfen wir unsere Launen, unser Naturell zu Ratgebern nehmen. Uns selber gilt es in den Hintergrund zu rücken und selbst uns zu vergessen, damit der Wille Gottes umso stärker zur Geltung komme. In der Handhabung von Menschen wie Sachen ist die oberste Bedingung eine vollständige Losschälung vom eigenen Ich.

Zuletzt darf ich wieder unsere Mitbrüder vom Kap und vom Rio-Bamba eurem Gebete empfehlen. Sie selbst bitten um unser Gebet. Bleiben wir ihnen in inniger Gebets- und Herzensgemeinschaft verbunden!