Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 03.07.1889: Die verschiedenen Aufgaben der Genossenschaft

Noch einmal empfehle ich dringend, treu zu den übernommenen Verpflichtungen zu stehen. Darunter verstehe ich nicht nur die Übungen eines jeden Tages, sondern alles, was in den Satzungen steht. Da schlägt z.B. ein Oberer etwas ab. Du wendest dich an einen anderen und verschweigst, dass es und warum es bereits verweigert wurde. Nein, sondern wir wollen uns in den verschiedenen Ämtern, im Unterricht und der Seelsorge draußen treu in Abhängigkeit vom Gehorsam halten. Wollt ihr einen Ausgang machen, fragt zuerst. Die Ferien nahen heran. Seid auf der Hut: gar viele Verstöße gegen den Gehorsam können sich da einschleichen.

Ich mache darauf aufmerksam, dass wir in Zukunft im Kapitel die brüderliche Zurechtweisung der Professpatres üben wollen, damit wir aus unseren Fehlern Nutzen ziehen, umsichtiger und vorsichtiger werden, und dass die anderen, die diesen Fehler nicht begangen haben, daraus lernen. Wir wollen heute noch nicht damit beginnen, obwohl genügend Gründe vorhanden wären. Ein Kapitel hat ja nicht nur den Zweck, allgemeine Weisungen zu geben und die Anwendung unserer Vorschriften in vagen Formulierungen zu zeichnen. Es soll auch ganz persönlich unterweisen und die allgemeinen Grundsätze auf Einzelfälle anwenden. Daher stammt der volkstümliche Ausdruck „chapitrer“ (Anm.: „frz. für abkapiteln, besser noch ‚abkanzeln‘.“). Ich lade euch darum ein, euer Tun und Lassen noch besser zu überwachen, damit es dieser öffentlichen Rüge nicht bedarf. Noch einmal – und zum tausendsten Mal – sage ich es: Unser ganzes Tun hängt ab von der Treue, von der Liebe zur Observanz. Wie wird eine Mauer gebaut? Genügt es, drei oder vier Schichten Steine oder Mörtel aufeinanderzulegen? Ein Windstoß – und sie fällt ein. Auch unser religiöses Gebäude muss solide zusammengefügt sein. Handelt es sich um einen persönlichen Fehler, der nur deine Person betrifft, so beichte und büße ihn. Berührt dein Verstoß aber die Ordensgemeinde, dann muss er vor der ganzen Gemeinschaft gesühnt werden. Ich will nicht, dass ein jeder tue oder sage oder sich benehme, wie es ihm beliebt. Das ist falsch verstandene Freiheit. Wir sind Ordensleute und müssen jederzeit beherrscht und abgetötet sein und in der Gegenwart Gottes leben. Das ist unsere Pflicht, vernachlässigen wir sie nicht!

Die verschiedenen Aufgaben der Genossenschaft:

„Zielsetzung und Arbeitsweise in unserer mannigfachen Seelsorgetätigkeit… sollen dem Plan unseres seligen Vaters entsprechen.“

Indem wir die Schriften unseres seligen Stifters lesen und beherzigen, nehmen wir seinen Geist, seine Art zu urteilen, seine Methoden in uns auf. Der hl. Franz v. Sales sollte in jeder Beziehung in uns Gestalt annehmen: in unseren Worten und Werken, in unseren Briefen und Unterweisungen, vor allem aber in der treuen Observanz. Das wird unseren Geist tiefe Einsichten vermitteln, wenn wir recht Acht geben. Gott wird – vergessen wir das nie – von uns Rechenschaft fordern nicht nur über unsere Sünden, sondern auch über unsere Unterlassungen. Kam er doch nicht nur auf die Erde, um zu lehren, wie wir die Sünde meiden, sondern auch, wie wir das Gute tun sollen.

Es ist für uns eine Pflicht, in unseren Schülern den Glauben zu fördern. Um das zu können, müssen wir ihn selber besitzen. Das darf natürlich kein blutleerer, abstrakter Glaube sein, sondern ein aktiver, der Feuer ausstrahlt und Flammen schlägt. Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu bringen. Der Hl. Geist schenkt uns diesen Glauben, wenn wir ihn oft darum bitten. Beten wir aus ganzem Herzen das „Veni Creator Spiritus“ (Anm.: „Komm, Schöpfer Geist…“). Besonders unsere Lehrer sollte das mit großer Frömmigkeit tun, denn niemand hat ihn nötiger als sie.

Erbittet diesen Glaubensgeist auch für unsere Schüler. Liebt ihn über alles und betet, dass ihr ihn den Seelen eurer Schüler weitergeben könnt. Habt Hunger und Durst nach dem Glauben, zieht ihn durch eure Sehnsucht in euch hinein und dann reicht ihn den anderen weiter. Die Gnade Gottes kann man nicht mit Händen greifen, sie teilt sich uns auf geheimnisvollen und unbekannten Wegen mit. Den Mantel des Elias wirkte Wunder, nicht wegen seines besonderen Gewebes, sondern weil er die Schultern des großen Propheten berührt hatte. Seine heilige, gottgefällige Seele hat gleichsam die Materie des Tuches durchdrungen und darin eine Kraft zurückgelassen. Warum wirkt wohl der hl. Rock unseres Herrn Wunder?

So ähnlich wird es in gewissem Ausmaß auch uns ergehen, wenn wir Glauben haben. Wenn ihr einen Brief im Geist des Glaubens schreibt, dann dürft ihr überzeugt sein, dass der Brief Gnaden mit sich führt, eine Erleuchtung bringt, besser macht. Erfüllt also euer ganzes Tun für den lieben Gott mit Glauben und teilt ihn aus an die Seelen.

Viele Menschen bilden sich etwas ein auf ihre Ehrlichkeit und haben doch keine Ahnung von dieser Tugend. Ehrlichkeit in unserem Verhältnis zu Gott, zum eigenen Gewissen. Wie leicht bildet man sich ein leichtfertiges, unehrliches Gewissen heran! Ehrlichkeit auch gegen den Mitmenschen. Nicht als müsste man jederzeit alles sagen, was man denkt. Dat tat nicht einmal unser Herr: Auf dem Weg nach Emmaus tat er, als ginge er weiter. Ein Oblate hasst alle Verstellung, sein Tun zielt einfach und gerade auf den Vorteil und das Wohl des Nächsten ab. Nichts Falsches ist an ihm, alles atmet Ehrlichkeit und Geradheit. Und diese Aufrichtigkeit sollt ihr euren Schülern einpflanzen.

Erzieht eure Schüler auch zur Ehrfurcht vor den anderen, vor den Eltern, der Obrigkeit. Freilich, welch ein Unglück, wenn die Autorität in den Händen Unwürdiger liegt. Das ist eine Züchtigung Gottes an seinem Volk. „Ein Kind soll sie führen!“ sagt die Hl. Schrift. Das soll heißen: einer ohne ausgewachsenen Verstand, ohne reifes Urteil, ohne Kraft und Mut soll sie regieren. Der Autorität als solcher gebührt immer Ehrfurcht. Die Zeitungen liefern Schlachten gegen dies und das… Wir haben keine Kriege zu führen, außer gegen den Teufel und unsere bösen Leidenschaften. Unser einziger Ehrgeiz ziele darauf ab, Seelen für den Herrn zu retten. Man liest Zeitungen… Für wen ergreift man Partei? Für diesen oder jenen. Und welche Grundsätze haben diese Zeitungsschreiber in ihrer Mehrzahl? Ich möchte diese Grundsätze nicht einmal mit einer Pinzette anfassen.

Gehorcht der rechtmäßigen Obrigkeit. Sie ist die Hüterin der göttlichen Autorität. Gehorcht auch den mürrischen Herren, sagt der hl. Paulus. Vielleicht könnt ihr nicht ihre Ansichten und Gefühle teilen, aber revoltieren dürfen wir trotzdem nicht. Diese Achtung vor der weltlichen und insbesondere der geistlichen Autorität sollte uns in Fleisch und Blut übergehen. Ehrfurcht vor den Eltern ist heute fast unbekannt. Ich fand in meinen alten Papieren einen Brief meines Nachbarn, H. Vosdey, den der an seinen Vater über den Brand des Theatre Francais (1784 oder 1785) schrieb. Der ganze Brief zeugt von unglaublicher Ehrfurcht. „Ich habe einen Fehler begangen“, heißt es da zum Beispiel, „den ich Dir gestehen muss: Ich wohnte bei Herrn W. und habe jetzt meinen Wohnsitz gewechselt. Verzeihe mir, dass ich nicht vorher um Deine Erlaubnis bat. Ich musste aus folgenden Gründen ausziehen…“ In diesem Ton schrieben früher Kinder an ihre Eltern. Welch zarte Hochachtung vor ihnen! Egoismus war noch nicht Mode geworden. Man hatte sich noch nicht die Devise der USA zu Eigen gemacht: Jeder für sich, Gott für alle!

Ein Ordensmann muss mehr als irgendein anderer um seine leibliche Familie besorgt sein, muss sie Gott näher bringen. Seht nur, wie liebevoll Gott die Familien guter Priester beschützt, mit welchen Aufmerksamkeiten, welchem Segen, Glück und Erfolg er sie umgibt. Betet darum viel für eure Familien und bringt Opfer für sie. Das bringt ihnen zehnmal mehr Vorteil ein als der ihr ihnen sonst an materiellen Gütern hättet verschaffen können. Die echte Liebe zu den Eltern ist doch jene, die gibt, und nicht jene, die empfängt. Die beste Art zu lieben ist das Schenken, vorzüglich das Sich-selber-schenken. Der Hingabe an die Familie folgt der Dienst am Vaterland auf dem Fuß. Hierüber gäbe es viel zu sagen, wir müssen darauf verzichten. Dienst und Hingabe ans Vaterland entspricht durchaus dem Geist des Ordensstandes, dem Geist der Kirche im Alten wie im Neuen Testament.

Des Weiteren sollen wir unsere Jugend zur Tapferkeit erziehen, die wir in der Vereinigung mit Gott, der Quelle aller Kraft, schöpfen. Zur Treue gegen ihre Verpflichtungen, zur Standhaftigkeit in den Prüfungen und zum unverbrüchlichen Festhalten an den Dogmen und Vorschriften unserer hl. Religion. Auf dieses treue Festhalten kommt es vor allem an. Der Mensch bleibt solange ein Bruchstück, als ihm der gelebte Glaube fehlt. Ohne diesen geübten Glauben hat er keine letzte Sicherheit.

Erbitten wir vom heiligsten Herzen Jesu und der Guten Mutter Licht und Kraft, um unserer Aufgabe für uns und die anderen gewachsen zu sein.