Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 26.06.1889: Beachtung der Regel

„Die Oblaten widmen sich den verschiedenen Aufgaben der Seelsorge, der christlichen Jugenderziehung und der Missionstätigkeit bei Irrgläubigen und Heiden.“

Wir wollen eine nach der anderen die verschiedenen Aufgaben der Kongregation besprechen. Es scheint mir notwendig, dass wir heute, wo die verschiedenen Werke der Kongregation einen gewissen Aufschwung nehmen, wir sie nur noch von Mitgliedern der Genossenschaft, von wirklichen Oblaten versehen lassen. Aus diesem Grund müssen wir unsere Oblatenpflichten so ernst nehmen. Ich hätte kein Verständnis für einen Oblaten des hl. Franz v. Sales, der das Direktorium, die Hausordnung, die Satzungen nicht mit äußerster Gewissenhaftigkeit beobachten wollte. Ich habe eine lange Erfahrung. Ich denke jetzt ans Priesterseminar zurück: Welche Priester haben später Großes gewirkt in der Seelsorge? Jene, die gute Seminaristen waren, jene, die treu die Hausordnung befolgten. Ich kannte unter den Seminaristen vornehme Herren, denen man nach der Weihe Vorzugsposten gab. Sie wurden Versager. Andere, die man auf weniger hohe Posten setzte, haben durch ihren Lebenswandel nicht immer die ihnen anvertrauten Seelen erbaut und geheiligt.

Welche also hatten Erfolg? Jene, die als Seminaristen beim ersten Glockenschlag aufstanden, das Stillschweigen hielten, ihren Vorgesetzten gehorchten und Haare und Talar trugen wie es sich gehörte. Diese haben Großes geleistet. Ein Ordensmann, der schlecht gehorcht, ist für die Kirche ein unglückliches, armseliges Wesen. Er nimmt einem anderen den Platz weg. Nimmt am Gastmahl teil ohne hochzeitliches Gewand. Er wird hinaus geworfen werden. Um welche Nachlässigkeiten geht es da? Es sieht nach nichts aus und ist doch alles. Soeben sah ich einen unserer Abgangsschüler, der in St.-Cyr eintreten will. „Man misst dort Nichtigkeiten einen viel zu großem Wert bei“, klagte er, „einen Schuh, einen Knopf, etc.“ – „Tut man damit wirklich unrecht?“ fragte ich ihn. Er wird nachdenklich und sagt schließlich: „Eigentlich nicht, denn wer solchen Kleinigkeiten Gewicht beimisst, erweist sich auch treu in seinen größeren Pflichten.“

Was wir zu tun haben, ist, die Werke Gottes zu vollbringen. Gott braucht uns nicht. Er kann sich aus Steinen Kinder Abraham erwecken, Steine die sich behauen und bilden lassen! So wird der Klerus geformt, so werden Kommunitäten aufgebaut, werden Seelen gerettet. Das ist keine geist- und herztötende Lebensweise, das ist wahre Freiheit. Vor Gott und meinem Gewissen versichere ich euch, liebe Freunde, dass ich kein ruhiges Gewissen hätte, wenn ich nicht selber peinlich genau Regel und Direktorium befolgte. Ich darf hier einmal von mir selbst sprechen, weil mir die Aufgabe obliegt, euch zu Oblaten zu formen: Ich erinnere mich nicht, auch nur ein einziges Mal freiwillig gegen die Hausordnung verstoßen zu haben, solange ich im Priesterseminar war. Was du tust, das tue ganz. Darauf kommt es an, ja davon hängt alles ab. Nur damit verbindet sich die Gnade Gottes. Nicht großes Wissen und Lehrweisheit bringt die erwünschte Wirkung hervor. Gewiss brauchen wir auch diese, sind sie doch das Skelett des Leibes der Kirche. Was der Kirche aber Leben einhaucht, was ihren ganzen Sinn ausmacht, das ist der Gehorsam, die Unterordnung. Ohne das leisten wir gar nichts. Ohne das gibt es keine Fruchtbarkeit. Seht da zwei Pfarrer: der eine leistet Großes, der andere enttäuscht. Der da nichts hervorbringt, predigt zwar und hört Beichte. Vielleicht hat er sogar das Zeug zu einem Generalvikar! Warum gelingt aber nichts? Weil er nicht gut betet, sein Brevier und seine Messe nachlässig liest. Der andere hingegen ist treu in all seinen priesterlichen Pflichten, er hat den Segen Gottes. Soll ich Namen nennen? Schaut nur den Pfarrer von Villeneuve, H. Cardot, an: Er wird in eine schlechte Pfarrei geschickt, reformier sie von Grund auf und wirkt unermesslich viel Gutes. Wie macht er das? Indem er beständig nach der „Regel“ lebt. So zieht er die Seelen zu Gott.

Wenn die Beobachtung der „Regel“ wesentliche Voraussetzung ist, dass ein Pfarrer in der Seelsorge Erfolg hat, dann ist sie noch unerlässlicher in der Seelsorge der Ordensleute. Da ist die Ordensregel alles. Das ist so wahr, dass man bei der Prüfung der Erfolge eines jeden sich zu der Schlussfolgerung gezwungen sieht: der Enderfolg wird nicht bestimmt durch die Arbeit in der Klasse, sondern ist die Frucht der Selbstzucht des Lehrers, die Frucht seiner Arbeit an sich selbst. Wir müssen dem lieben Gott freie Bahn lassen. Das kostet zwar Opfer, ist aber die einzig wirksame Methode.

Arbeitet man in diesem Sinn und lässt man sich nicht vom eigenen Geist leiten, dann wird man eben vom Geiste Gottes geführt. Die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, sind Kinder Gottes. Gottes Geist packt uns gleichsam bei den Schultern und treibt uns nach links oder rechts. Solche hört Gott an, er segnet und erhört sie. Was mich betrübt, ist der Geist einer falsch verstandenen Freiheit und Unabhängigkeit um mich herum, der gewisse Wahrheiten auf die leichte Schulter nimmt. Wo sich dieser Geist breit macht, geht alles schief. Was macht ein Gebäude stabil? Doch nur der Kalk und der Sand. Was haltet ihr von einem, der über diese Wahrheit spottet? Was ist schon Kalk? Feiner Staub, der zu nichts taugt? Ein Stein ist schon etwas ganz anderes. Auch Sand mag noch hingehen. Aber Kalk? Und doch ist der Kalk beim Bauen das A und O. Was also wie der Staub, klein und nichtig aussieht, kann doch alles bedeuten, in der Physik wie in der Moral.

Die Genossenschaft muss sich ausbreiten, muss allerorts Wurzeln schlagen. Wir können nicht nur das uns anvertraute Pfund weiterschleppen. Im Gewissen sind wir verpflichtet, es zu vervielfältigen. Es genügt nicht, das Talent zu verbergen und zu vergraben. Jeder muss seinen Anteil beitragen. Jeder muss sich seiner Aufgabe mit dem Einsatz all seiner Kräfte hingeben. Wir sind Christi Wohlgeruch. Dieser Wohlgeruch entströmt nur einem Willen, der mit dem Heiland vollkommen eins ist. Was wäre, wenn wir statt dieses Duftes den Seelen den Geruch von Lauheit, Flatterhaftigkeit, Pflichtvergessenheit und mangelnder Treue brächten? An uns ist es, meine Freunde, dem Meister von allen Seiten Seelen zuzuführen. Das taten die Apostel und die ersten Ordensleute. Welches war ihr Geheimnis? Sie waren ein Herz und eine Seele, unterwarfen ihr eigenes Urteil und töteten es ab, waren mit unserem Herrn aufs innigste vereint. Sein Geist erfüllte sie, und großmütig gaben sie sich ihren apostolischen Werken hin. Reinigt euch ohne Unterlass, tragt die Gefäße Gottes in vollkommener Liebe, in gewissenhafter Treue zu euren Verpflichtungen.

Kein Zweifel: wären wir Heilige, so würde unsere Kongregation schon mehr Mitglieder aufweisen. Um aber mehr Mitglieder aufzuweisen, müssen wir Heilige werden. Man suche die Schuld nicht hier und dort, sondern jeder bei sich selbst. Wenn etwas misslingt, sagt nicht: „Mir fehlen die nötigen Mittel.“ Das ist nicht wahr! Ich fordere jene auf, die sich auf diese Weise gern herausreden, ehrlich zu sagen, ob sie wirklich dann Misserfolg hatten, wenn sie ihre Pflicht ohne Einschränkung getan haben. Haltet treu euer Direktorium und ihr werdet sicher euer Ziel erreichen. Das Reich Gottes ist in euch. Schaut nur die Unbeständigkeit des einen an, die Ärgernisse des anderen, ja sogar so manchen Verrat! Seid das, was ihr sein sollt, ganz und sucht nicht Ausreden in äußeren Dingen, wenn ihr innerlich versagt habt. Seht nur gut nach, ob es in dieser Hinsicht nichts anzuklagen gibt, ob euch anzuklagen gibt, ob euch der liebe Gott nicht irgendwo Lügen straft. Doch nicht bloß im Inneren sollt ihr die Abtötung Christi mit euch herumtragen. Auch im Äußeren, in euren Händen, eurem Gang, an euren Kleidern muss die Abtötung Christi sichtbar werden.

Bezüglich der Kleidung lasst mich auf einen Punkt zurückkommen, den wir schon gestreift haben: es handelt sich um die Pelerine oder die Mozetta. Kein religiöser Orden trägt derlei Umhänge. Sicher hätte man im Sommer, wen man wegen der großen Hitze keinen Pullover tragen kann, manchmal gern etwas über die Schultern gehängt. In diesem Falle könnte man es einigen Patres vielleicht erlauben, diesen Kragen zu tragen. Wir wollen damit aber nie ausgehen. Im Hof und im Zimmer mag man ihn notfalls umhängen, so wie man im Winter einen Wollschal umlegt. Darüber hinaus wollen wir nicht gehen. Braucht also jemand solch einen Kragen, weil er vielleicht früher diese Gewohnheit hatte, so wollen wir ihn nicht zwingen, sich einen Schnupfen zu holen. Aber dieser Überkragen gehört auf keinen Fall zu unserer vorschriftsmäßigen Kleidung.

Noch einmal möchte ich auf unsere Haltung beim Knien zurückkommen. Wir Oblaten stützen uns beim Knien nicht auf die Unterarme oder Ellbogen, wie wir dabei auch nicht die Beine übereinanderschlagen. Auf der Straße schreiten wir nicht in stolzer oder komischer Haltung dahin, sondern bleiben überall einfach: überall nehmen wir gern das Joch Jesu Christi auf uns. Ist dies drückend und schwer? Nein, denn „mein Joch ist süß und meine Bürde leicht“, verheißt der Heiland.
Tragen wir dieses Joch, ob wir allein sind und uns niemand sieht, oder ob wir uns in der Kommunität aufhalten. Jeder ist nicht dazu berufen, ständig in einer Gemeinschaft zu leben. Wir sind oft mehr oder weniger isoliert. Leben wir dann mit dieser Last Gottes, und der liebe Gott wird mit uns sein. Wir haben Beweggründe genug, auf der Höhe unserer Berufung zu sein. Wir stehen im Blickfeld vieler, man erwartet Großes von uns. Diese unsere Lehre ist reich im Übermaß und imstande, köstliche Früchte hervorzubringen. Das wird freilich nur dann geschehen, wenn wir ganz das sind, was wir sein sollen. Nicht viele Mächtige und Vornehme gehören zu uns. Macht, Intelligenz, Wissenschaft – all das ist sehr gut. Was aber Frucht bringt, ist die Treue.