Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 12.06.1889: Der Novizenmeister

„Der Novizenmeister wird in jedem ordentlichen Provinzkapitel gewählt.“

Das Anliegen des Novizenmeisters muss es sein, seinen Novizen den Geist des hl. Franz v. Sales einzuprägen. Dieser Geist wird von zwei Gedanken beherrscht: vom Gehorsam gegen die Oberen und von der Liebe zu den Mitbrüdern. Die Satzungen, die Franz v. Sales der Heimsuchung übergab, die Regeln, die er aufstellte, die Grundsätze, die er fürs innere Leben einschärfte, zielen alle darauf ab. Gewiss wird auch in den großen Orden der Gehorsam als etwas Heiliges angesehen. Bei uns aber bildet er das unterscheidende Merkmal: er muss uns ganz einhüllen, muss allumfassend, herzlich und einfach sein. Wir brauchen deshalb wahrlich keine Gebirge zu überschreiten und keine gewaltigen Hindernisse zu überwinden. Brauchen auch keinen mächtigen Anlauf zu nehmen, um diese Hürde (des Gehorsams) zu überspringen. Nein, wir gehorchen, weil es unsere Pflicht ist: einfach, herzlich und ganz kindlich, ohne Aufhebens davon zu machen. Mutig und still leiden wir das Martyrium des Gehorsams, wie es nach dem hl. Paulus auch unser Herr tat: im Leiden lernte er Gehorsam. Wir machen keine großen Worte, sondern gehorchen gern und von Herzen. Weder feilschen wir um das, was man uns aufträgt, noch machen wir eine Heldentat daraus. Der Meister wird darum eine seiner Hauptaufgaben darin sehen, seine Novizen zu diesem Gehorsam zu führen. Für die Leitung soll der Meister nicht allerlei Ideen aus anderen Orden übernehmen. So gut diese auch sein mögen, für uns sind sie es nicht, wie das Direktorium uns warnt. Wir halten uns genau im Rahmen der Gedanken des hl. Stifters, der Guten Mutter und schließlich auch der meinen. Dieser Geist weist genügend Weite und Bewegungsfreiheit auf. Wer zu ihm berufen wird, findet darin überreich, was ihm frommt. Gerade wegen seiner Weite passt der innerliche Geist des hl. Franz v. Sales für eine sehr große Zahl von Seelen.

„Er wird allen die gleiche Sorgfalt und Liebe zuwenden.“

Man soll nicht auf das Ansehen der Menschen achten. Was hier vom Novizenmeister gesagt wird, gilt für jeden, der ein Amt innehat, und sich mit der Sorge um Seelen befasst. Für die Ämter, die sich primär mit der Erziehung und Ausbildung junger Leute abgeben, ist das von größter Wichtigkeit.

In die Erziehung der Jugend muss man ein starkes Gefühl für Gott und das Göttliche mitbringen, große Treue zu unserem Geist und zu den Gedanken des Direktoriums. Die Seelen sollen ja nicht nach dieser oder jener Form gestaltet werden, die einem am meisten zusagt. Man soll vielmehr trachten, sie zu verstecken, sie zu packen, um das geringste Gute, das in ihnen steckt, – wie unser hl. Stifter rät – zur Entfaltung zu bringen. Seht nur den Pfarrer Garnier aus Caen an, der letzte Woche hier war. Wie stellt er es an? Er geht darauf aus, überall wo er hinkommt, dieses Pünktchen an Gutem, das er vorfindet, zur Flamme zu entfachen. So müssen auch wir in unseren Schülern und Erwachsenen, die unserer Leitung unterstehen, die Gabe Gottes suchen und zum Reifen bringen. Nachträglich einen besseren ist immer schwer, sehr schwer. Umsonst beschneidet man das Queckengras. Es wächst nur noch üppiger nach. Alles kommt darauf an, die Stelle im Menschen zu entdecken, an der er für Gott ansprechbar ist. Das erfordert freilich viel Beobachtungsgabe, Scharfsinn und Licht von oben. Alfons v. Ligouri sagt einmal ein starkes Wort: Eine kluge Führung kann jene retten, die ohne sie unfehlbar verloren gegangen wären. Eine unkluge hingegen verdirbt, was schon gerettet war.

Wir müssen ernst und mit kluger Überlegung jene behandeln, mit denen wir beruflich zu tun haben. Das müssen sich besonders Studienleiter und Lehrer merken. Achten wir gut auf die Gabe Gottes. Trampeln wir die kostbaren Perlen nicht zu Staub. Im Gegenteil, verkaufen wir alles, um sie zu gewinnen. Stellen wir eine ungeheure Kraft. Sobald ein Kind merkt, dass ihr in ihm etwas hochschätzt, habt ihr sein Vertrauen gewonnen. Trachtet diese kleine Perle, die Gott in seine Seele gelegt hat, in den Griff zu bekommen, auch wenn es sich um ein bösartiges, schwieriges Kind handelt. Ich behaupte nicht, dass ihr immer vollen Erfolg haben und Wunder vollbringen werdet. Ich behaupte aber, dass von euch eine starke Wirkung ausgehen wird. Schätzt alles, was von Gott kommt, sei es nun eine natürliche oder eine übernatürliche Gabe. Das Kind soll spüren, dass ihr es um dieser Gabe willen liebt.

Hören wir auf den hl. Franz v. Sales, P. Clement sagte mir, er sei der größte Stratege des inneren Lebens. Nun packte Franz v. Sales aber immer dort an, wo etwas anzupacken war. Das setzte viel Gebet voraus, dass wir aus der jeweiligen Gabe Gottes Vorteil ziehen und das Talent nicht wie der untreue Knecht im Evangelium ins Taschentuch wickeln und in der Gartenecke vergraben. Jeder Lehrorden hat seine spezifischen Mittel, um die Herzen der Schüler und der Erwachsenen, mit denen er in Kontakt steht, zu gewinnen. Alle diese Mittel sind gut, weil sie das Ziel verfolgen, den Willen Gottes zu verwirklichen. An diesen Mitteln hat Gott sein Wohlgefallen. Das große Mittel des hl. Franz v. Sales aber bietet noch mehr Sicherheit, Gott zu gefallen. Denn wir nehmen gerade das, was Gott selbst in die Seelen gelegt hat, heben es ans Licht und bringen es zur Entfaltung. So lasst uns den alle unsere Fähigkeiten und unseren ganzen Einfluss geltend machen, um bei unseren Schülern den Erfolg, das gute Ergebnis sicherzustellen.

Selbst die kleinsten Bruchstücke einer Gabe Gottes dürfen wir nicht geringschätzen. Wir sammeln sie vielmehr in Geduld und hegen sie sorgsam und ehrfürchtig, als wären sie bereits zu einer gewissen Entfaltung gelangt. Das war das Geheimnis unseres hl. Stifters in der Seelenführung, das war sein großes Mittel. Beten wir um die nötige Einsicht. Gleichgültig, mit wem wir es zu tun haben: sobald wir etwas Gutes an ihm feststellen – sei es noch so vergraben und verschüttet – ziehen wir es ans Tageslicht und pflegen es mit aller Achtsamkeit. So allein gewinn wir die echte Liebe unserer Schüler, lenken und leiten ihre Seelen und beeinflusst sie tiefinnerlich.

„Die Brüder befassen sich mit den materiellen Aufgaben des Hauses.“

Ich will hier nicht wiederholen, was ich schon so oft über die Handarbeit gesagt habe. Wir Oblaten zollen ihr eine besondere Hochachtung, erachten sie als etwas Heiliges, so heilig wie das Gebet oder das Weihwasser – wenn immer wir sie in Vereinigung mit unserem Herrn verrichten. Denn dann arbeiten unsere Hände im Verein mit seinen Händen, unsere Augen schauen mit seinen Augen, unser Schweiß vermischt sich mit dem seinigen. In den alten Orden verstand man es ausgezeichnet, durch die Handarbeit sich mit Gott zu vereinigen.

Ich kannte einen – inzwischen längst verstorbenen – alten Jesuitenpater, ein Original, den P. Cotet. Eines Tages begegnete ich ihm am Kanal. Er sagte zu mir: „Mir scheint, Pater L. Chappuis ist in Troyes. Ein komischer Kauz das. Er war mein Novizenmeister. Wie grob der uns behandelt hat! Er schlug uns sogar!“ – „Nun, Sie werden ihm dafür sicher recht dankbar sein“, gab ich zur Antwort. „Oh, und wie!“ – „Besuchen Sie ihn denn?“ – „Ich denke nicht daran.“ – Plötzlich fragt er mich: „Ich habe gehört, Sie gründen ein religiöses Institut?“ – „Das stimmt.“ – „Gibt es auch Laienbrüder?“ – „Jawohl.“ – „So, so, Sie haben auch Brüder! Ich möchte bloß sehen, was sie aus ihnen werden.“ – „Na, und die Gnade Gottes?“ werfe ich ein. – „Oh, mit dieser machen Sie daraus Heilige und Taugenichtse.“

Und das sei mein letztes Wort: Unsere Brüder sind entweder beherzte, wackere Männer oder sie sind zu nichts nütze, werden entweder Heilige oder Taugenichtse. Die Patres können noch eine gewisse Mittelstellung zwischen beiden Extremen bewahren. Die Brüder hingegen müssen aufs Ganze gehen, nach der einen oder der anderen Seite.

D.s.b.