Kapitel vom 27.03.1889: Keuschheit als Hauptzierde des Ordensstandes
„Die Keuschheit ist eine Hauptzierde des Ordensstandes.“
Die Keuschheit ist der Ruhm des Ordensstandes. Sie scheidet den Ordensmann am eindeutigsten von der Welt. Ohne allzu viel Mühe findet man sich in der Welt mit einem Leben der Armut und Abhängigkeit zurecht. Alle Beamten und Soldaten müssen gehorchen. Keusch leben aber ist Vorrecht der Priester und Ordensleute. Messen wir darum diesem Gelübde die gebührende Bedeutung bei.
Dieses Gelübde schließt nicht nur die Pflicht ein, das 6. Gebot zu erfüllen, das jeden Verstoß gegen diese hl. Tugend verbietet. Es legt uns darüber hinaus gewisse Verpflichtungen auf, die nicht in den Zehn Geboten stehen. Diese Verpflichtungen sind Eigengut des Ordensstandes, dazu bestimmt, das Gelübde der Keuschheit selbst zu schützen.
„Sie werden ihre inneren und äußeren Sinne mit stets erneuter Wachsamkeit bewachen.“
Mit „inneren Sinnen“ ist hier unsere Phantasie gemeint. Gewiss ist sie – philosophisch gesehen – kein Sinn. Diesen Namen geben ihr aber die Lehrer des geistlichen Lebens und die Theologen.
„In all ihren Handlungen werden sie die größte Sittsamkeit beobachten.“
In unserem Tun müssen wir nicht nur das meiden, was den Nächsten skandalisieren oder verletzen könnte. In unseren Manieren und Handlungen soll überdies alles den Stempel der klösterlichen Sittsamkeit tragen, die die Menschen so sehr erbaut. In unseren seelsorgerlichen Beziehungen zu Frauen und Mädchen heißt es mit besonderer Sorgfalt darauf zu achten, stets in den Schranken unserer klösterlichen Sittsamkeit zu bleiben. Nehmt Rücksicht auf das Zartgefühl der Frauen und Mädchen, und nicht nur auf das, sondern auch auf ihre große Beeindruckbarkeit. Gibt sich ein Priester oder Ordensmann ihnen gegenüber allzu vertraulich oder lässt er sich gehen, so erregt das bei ihnen Ärgernis, und damit haben sie nicht unrecht.
Bei Oblaten sollte es als feste Regel gelten, in Gegenwart einer Frau sich stets etwas Zwang aufzuerlegen. Damit will ich nicht sagen, wir sollten vor ihnen verlegen sein. Wohl aber: man soll sich nicht gehen lassen. Das gelte uns als Regel ohne Ausnahme. Hast du dich auch nur einmal vor einer Frau gehen lassen, dann bist du für sie kein Priester mehr. Sie beachtet nicht mehr die Distanz zwischen ihr und dir. Wir wollen nicht übertreiben: Ich behaupte nicht, dass eure Seelsorge damit zur Unfruchtbarkeit verurteilt sei. Sicher aber ist, dass sie nicht mehr die gleiche Ehrfurcht, das gleiche Vertrauen zu dir hat.
Betrachtet nur unseren Herrn, im Gespräch mit der Samariterin! Die Jünger wundern sich, dass er sich mit einer Frau unterhält… Wie ernst und feierlich sind seine Worte! Wie versteht er es, sie in Distanz zu halten, so dass sie in den Ruf ausbricht: „Welch wunderschöne Dinge er sagt! Wir hier warten auf den Messias!“ Sie schlägt gleich einen ernsten Ton an, bringt Dinge zur Sprache, die sie für die wichtigsten hält. Solch ein Vorgehen hat also weittragende Folgen. Es flößt sofort Vertrauen ein. Der Priester und Ordensmann, der so spricht, ist kein gewöhnlicher Mensch mehr: Stets tragt ihr das Todesleiden Christi an eurem Leib. Gerade bei solchen Gelegenheiten (mit Frauen) gilt es, die Abtötung Christi in sich zu tragen.
Was das Äußere betrifft, müssen wir uns also wohl hüten, uns auf eine lässige Art hinzusetzen, indem wir die Beine ausstrecken oder kreuzen. Früher wurden diese Regeln des feinen Anstandes vom Klerus wohl beachtet. Machen wir sie uns wieder zu Eigen. Sie ziehen uns das Vertrauen und die Hochachtung der Menschen zu. Ich wiederhole: Seien wir Frauen gegenüber immer etwas auf der Hut, lassen wir uns nie gehen, seien wir zurückhaltend, ohne deshalb unnatürlich und steif zu wirken.
„Sie werden stets aufmerksam auf ihre Blicke achten.“
„Der Tod“, sagt der Hl. Geist, „stieg durch die Fenster ein.“ Halten wir also unsere Augen wohl in der Gewalt. Der Erzbischof von Paris erzählte mir, er sei, als er noch Koadjutor war, manchmal in schwarzem Talar und Hut durch die Straßen von Paris gegangen. Da habe er oft vor Verkäufern von Gemälden Priester stehen sehen. Diesen versetzte er beim Vorbeigehen mit seinem Stock oder Regenschirm einen kleinen Stoß. Der Priester drehte sich, manchmal recht ungehalten, nach dem Anrempler um, und fragte sich: „Was will denn dieser alte Geistliche von mir? Will er mir die Leviten lesen…?“ Bald aber erkannte er den Koadjutor und trollte mit gestrichenen Segeln von dannen. Das wollen wir also vermeiden, es erregt nur Aufsehen und Ärgernis. Heutzutage sieht man ja an allen Straßen Plakate hängen, die die Moral untergraben und das Volk verderben. Und da soll es nicht anstößig wirken, wenn ausgerechnet Priester davor stehen bleiben? Vielleicht sagen mitunter Weltleute zu euch: „Was einem hier alles unter die Augen kommt an Bildern, Gemälden, Statuen, ist nur halb so schlimm. In Paris bekommt man ganz andere Dinge zu sehen und wird deshalb auch kein schlechterer Mensch…“ Ich spreche jetzt aus Erfahrung: Ich lernte noch nie einen keuschen Jungen oder Mädchen kennen (ich spreche nicht von kleinen Kindern), die nicht ihre Blicke beherrscht und jene Sittsamkeit besessen hätten, die die Augen vor gefährlichen dingen abwendet.
„Sie werden auf ihre Worte achthaben und sich nie eine Unterhaltung oder auch nur einen Ausdruck gestatten…“
Meiden wir alle zweideutigen Witze und alles, was die Gedanken auf unanständige Dinge lenken könnte. Unsere Unterhaltung sei ganz rein und keusch! Meiden wir jeden Ausdruck, der nicht bloß gegen das Gelübde verstößt, sondern schon schlechte Erziehung verrät. Achtet auf eure Lektüre. Eine gefährliche Lektüre geht nicht ohne Fehler und Sünde ab. Der Teufel weiß sich dessen für seine Zwecke zu bedienen, ruft sie ohne Unterlass ins Gedächtnis, ermüdet schließlich den Geist, und macht nur allzu oft den Willen schwach.
„Sie werden über alle ihre Gedanken wachen und sich jeden versagen…“
Wir müssen schon den bloßen Schein der Sünde meiden. Einem schlechten Gedanken Einlass gewähren, stellt allein schon Materie der Sünde dar, ja sogar einer Todsünde, wie alle Theologen lehren. Haben wir es aber mit einem Skrupulanten zu tun, oder haben wir die Gewissen von Kindern zu formen, so hüten wir uns wohl, ihnen ein enges Gewissen voller Hemmungen anzuerziehen. Seht auf den Grund der Seele und lehrt sie, mit unserem Stifter zu unterscheiden zwischen einem bösen Gedanken und der Einwilligung. Es gibt in der Seelenführung Vorsichtsmaßregeln, die wir peinlich beachten müssen. Was uns selbst betrifft, wollen wir kurz abschneiden mit jedem Gedanken, der eine Gefahr für uns darstellt.
„Sie werden ihr Herz bewachen, es nur auf Gott richten…“
Jede Liebe soll von Gott ausgehen und zu ihm zurückkehren. Für jede andere Zuneigung sei in unserem Herzen kein Platz. Liebe schulden wir unseren Eltern und Freunden sowie den uns anvertrauten Seelen. Doch vor jeder Anhänglichkeit des Herzens, vor jeder fühlbaren Zuneigung, jeder verbotenen Freundschaft gilt es, auf der Hut zu sein. Das stünde in direktem Gegensatz zu unserem Gelübde der Keuschheit. Solche Zuneigungen sind immer unheilvoll und nehmen stets ein schlechtes Ende, lenken allmählich von Gott ab und führen schließlich zu schweren Sünden. Schenken wir darum all unsere Affekte, unsere ganze Liebe und Sympathie dem lieben Gott. Die Liebe muss ebenso rein zu ihm zurückkehren wie sie rein von ihm uns herabstiegen ist.
D.s.b.
