Kapitel vom 06.03.1889: Allgemeines über die Keuschheit
„Die Keuschheit ist eine Hauptzierden der Ordensstandes.“
Die Keuschheit als eines der Ruhmestitel des Ordensstandes: so fasst die Welt den Ordensmann und den Priester auf. Von ihnen wird nicht nur eine negative Keuschheit erwartet, die das Böse meidet. Man erwartet sie von ihnen positiv: Wir sind Christi Wohlgeruch. Wir müssen in unsere Umgebung inmitten der Welt den Eindruck einer nicht nur echten, sondern einer vollkommenen Keuschheit tragen. Wir dürfen darum nicht den Anschein erwecken, als suchten wir uns selbst unsere eigene Bequemlichkeit, unser Wohlergehen. Die Keuschheit muss vielmehr in all unseren Worten und Handlungen und in unserem gesamten Auftreten aufleuchten. Das ist nicht gleichbedeutend mit einer gezwungenen und lächerlichen Haltung, einem merkwürdigen Augenaufschlag und einem komischen Gesichtsausdruck: das wäre genau das Gegenteil von unserem Geist. Auch ohne unnatürliche Haltung können wir uns aber durchaus etwas Zwang auferlegen, uns gerade halten, mit Wohlanstand einhergehen, und alles Sonderbare, Hastige und Nachlässige vermeiden.
Auch bei Tisch zeuge unsere Haltung von Selbstbeherrschung und Abtötung. Das geht nicht ohne einen gewissen Zwang, den man freilich gar nicht merken soll. Unsere Einfachheit und gute Erziehung wird den Tischgenossen aber nicht entgehen. Gerade in dieser Einfachheit liegt die Vollkommenheit, denn nichts kostet unserer Natur mehr als Einfachheit und wohlgeziemendes Benehmen. Um diese Einfachheit zu erlangen, bedarf es einer größeren Anstrengung als wollte man bloß Eindruck machen. In der Einfachheit liegt eben Genialität.
Die Keuschheit beschränkt sich also nicht nur auf unser Inneres, sondern prägt auch unser äußeres Verhalten: Ein Mensch kann ja überhaupt nur nach seinem Äußeren beurteilt werden. Ein einfaches, gesammeltes Äußere ist eine überzeugende Predigt. „Lasst uns predigen“, sagt Franz v. Assisi zu Bruder Leo. Sie gingen aber schweigend durch die Straßen der Stadt. Wieder zurückgekehrt, drückt Bruder Leo seine Verwundung aus. „Aber haben wir denn nicht wirklich gepredigt?“ sagt Franz, „und viel wirksamer als durch Worte…?“ So stiften gute Ordensleute durch ihr bloßes Auftreten mehr Segen als durch viele Worte.
Natürlich wollen wir jedes Übermaß vermeiden. Tragen wir darum die Abtötung unseres Herrn mehr in unserem Inneren, ohne dass man uns äußerlich viel anmerke von unserer Selbstbeherrschung. Diese Bescheidenheit war eine der Hauptanliegen unseres hl. Gründers, das er immer wieder empfahl, besonders seinen Priestern auf den Diözesansynoden.
„In all ihren Handlungen werden sie die größte Sittsamkeit beobachten und sich nie etwas erlauben, was diese hl. Tugend verletzt.“
Wenn die Versuchung uns belagert, müssen wir zum Gebet flüchten, und uns ablenken. Die Ablenkung ist hier vielleicht wichtiger als das Gebet. Das Gebet muss hier nämlich durch eine äußere Tätigkeit unterstützt werden, damit unsere Gedanken in eine andere Richtung gelenkt werden. Auch Abtötungen und Bußübungen können hier großen Nutzen stiften und wir wollen sie nicht vergessen. Töten wir uns viel und unauffällig ab! Da läuft uns irgendetwas über die Leber. Die andern merken es nicht einmal. Beeilen wir uns, davon zu profitieren. Eine Menge solcher Kleinigkeiten sollten wir ständig bereit halten, um für Gott etwas zu tun. Wie viel würde uns das nützen!
„Sie werden stets aufmerksam auf ihre Blicke achten.“
Sorgsam müssen wir jeden Blick meiden, der uns in Versuchung bringen könnte. Schon durch unser Gewissen wären wir dazu verpflichtet, auch wenn die hl. Regel es uns nicht ausdrücklich einschärfte.
„Sie werden auf ihre Worte achten.“
Ordensleute müssen auch in ihren Worten keusch sein. In ihrer Unterhaltung darf es keine zweideutigen Worte, gefährliche oder unkluge Bemerkungen geben. Unsere Gespräche soll große Reinheit auszeichnen. Der geringste Verstoß würde hier zu einem großen Ärgernis. Der hl. Bernhard pflegte zu sagen: Dummes Zeug wäre im Mund eines Weltmenschen dummes Zeug, im Munde eines Gotteslästerung. Vieles in den Unterhaltungen der Weltleute ist keine Sünde. Bei Ordensleuten würde es Anstoß erregen. Gewisse Redensarten können Weltmenschen gerade noch nachgesehen werden, in unserem Munde wären sie unverzeihlich.
„Sie werden über alle ihre Gedanken wachen.“
Nie dürfen wir uns bei verbotenen Vorstellungen aufhalten, die zum Bösen führen oder in sich schon böse sind. Belästigen wir uns solche Gedanken gegen unseren Willen, so brauchen wir uns darüber nicht zu beunruhigen. Kämpfen wir nicht gegen sie an, sondern fliehen wir sie. Das raten alle Lehrer des geistlichen Lebens. Besser lässt man wie der ägyptische Josef dem Verführer den Mantel zurück und ergreift die Flucht, als dass man direkten Widerstand leistet. Suchen wir an andere Dinge zu denken und wenn möglich eine andere Beschäftigung zu beginnen.
„Sie werden ihr Herz bewachen, es nur auf Gott richten.“
Über unsere Zuneigungen heißt es gut wachen, denn es geht hier um sehr zarte und delikate Dinge. Immer sollen unsere Neigungen Gott zum Gegenstand und seinen Willen zur Richtschnur haben, unser Herz müssen wir immer von ihnen frei halten. Denn wenn wir unser Herz verwirrt und unruhig finden, haben wir den Beweis, dass es sich um eine gefährliche Neigung handelt. Und diese Gefahr heißt es zu fliehen. Lenken wir uns von dieser inneren Gefangenschaft ab, wie gesagt, nicht durch direkten Kampf, sondern durch das Meiden der Gelegenheit, durch Gebet und Abtötung. Gewöhnlich gibt man sich großer Täuschung hin über den Gegenstand der Zuneigung: oft, wenn man etwas oder jemand zu lieben glaubt, liebt man in Wirklichkeit sich selbst. Die Zuneigung geht von uns aus und kehrt – mehr oder weniger verstärkt – zu uns zurück. Die hl. Regel legt uns als Pflicht auf, nur in Gott und für Gott zu lieben und ihm allein anzuhangen.
Die so verstandene Keuschheit ist wirklich eine Zierde des Ordensstandes, auch sein Glück und seine Seligkeit: Selig, die reinen Herzens sind. Das gilt ja nicht erst für den Himmel. Alle acht Seligkeiten finden ihre Erfüllung bereits in dieser Welt, machen den Menschen in seiner Ganzheit selig, also hier wie drüben. Ist das Herz rein, dann schaut man Gott schon in dieser Welt, durchschaut sein Wollen und Lieben. Und im Himmel werden wir dann seine Glückseligkeit „schauen“ und mit ihm jene Gottesschau teilen, in der die ewige Seligkeit besteht.
Seien wir also ganze Ordensleute, die überall durch ihre Bescheidenheit erbauen und den Wohlgeruch Jesu Christi hintragen.
Ich empfehle euren Gebeten inständig die Seele des Msgr. Zitelli, Unterstaatssekretär der Propaganda, der unserer besonderer Freund war. Ich wünsche, dass jeder Pater, der es noch nicht getan hat, drei hl. Messen für ihn liest zum Dank für alle Dienste, die er uns erwiesen hat.
