Kapitel vom 17.04.1889: Über die Ordenspflichten und deren Unterlassung
Karmittwoch! Die Gedanken der Karwoche beherrschen zurzeit alles. Da ist es wohl angebracht, ein Wort der Ermunterung zu sagen, wie wir sie verbringen sollen. Die Zeremonien der Kirche, die Betrachtung der Leidensgeschichte, die Lesungen und geistlichen Gespräche sind alle schön und gut. All das bleibt aber fruchtlos, wenn unser Wandel nicht mit dem Gelesenen und Betrachteten überstimmt. Unser Herr hat uns nicht nur durch seinen Willen, sondern auch durch sein Leiden und Sterben erlöst. Er ließ sich mit Nägeln ans Kreuz herab, sondern starb daran, während die Pharisäer ihm zuriefen: „Steig doch herab vom Kreuz, dann wollen wir an dich glauben!“
Die beste Art und Weise und die kommenden Wochen zu heiligen, ist eine gewisse Regeltreue. Wir führen bislang nur ein loses Gemeinschaftsleben. Wir werden hin- und hergerissen. Die Gesamtaktion der Kommunität tritt noch wenig in Erscheinung. Unsere Zimmer liegen nicht wie Zellen nebeneinander. Die äußeren Übungen eines Kommunitätslebens lassen sich hier kaum durchführen. Sie werden bald ganz verschwinden, wenn die Treue jedes einzelnen zur hl. Regel nicht absolut und bedingungslos ist. Tut man denn ein großes Unrecht, wenn man untreu ist? Jawohl, selbst das kostbare Blut unseres Herrn wird unseren Seelen dann nichts mehr nützen. Keinerlei enge und strenge Verpflichtungen halten uns zusammen. Wir haben uns bisher nicht viel den Kopf zerbrochen, wie wir unserer Gemeinschaft einen festen äußeren Rahmen geben könnten. Wir waren ja nicht sehr zahlreich. Darum ist es äußerst notwendig, dass jeder einzelne gewissenhaft seine Pflicht tue.
Die Menschen haben im Allgemeinen kein feines Gewissen. Ein gewissenhafter Mensch ist eine Seltenheit. Gerade wir aber brauchen ein zartes Gewissen, weil es unser einziges Mittel ist, die hl. Regel gut zu beobachten.
Was mich angeht, so glaube ich sagen zu können, in meinem ganzen Leben keinen Augenblick körperlich oder seelisch eine Verpflichtung meines Amtes vernachlässigt zu haben, als Seminarist, als Professor oder als Seelsorger. Ich kann es darum nicht verstehen, dass man anders leben kann. Vielleicht liegt hier der Grund, dass mir gar nicht der Gedanke kam, äußere Maßnahmen zu ergreifen, dass die hl. Regel wirklich befolgt werde.
Da ertönt die Glocke zum Aufstehen. Was tut man? Man bleibt im Bett. Ist das keine Sünde? Doch, und zwar keine kleine, denn nach einiger Zeit verliert man seinen Beruf: aus der kleinen Sünde wurde also eine schwere, ein Frevel. Du machst deine Betrachtung nicht: eine neue Sünde, weil uns diese Gewohnheit in einen Zustand der Kälte und Gleichgültigkeit gegen Gott und unseren Beruf versetzt. Du beraubst dich der Gnaden, die Gott dir zugedacht hatte. Fehlen dir aber die nötigen Gnaden, wie willst du anderen solche vermitteln? Was für einen Baum verfluchte der Herr im Evangelium? Es war keine Eiche, denn die trägt keine essbaren Früchte. Auch keine Palme, eine solche hat keine für alle erreichbaren Früchte. Es war ein Feigenbaum, weil er die Vorbeigehenden nicht mehr mit seinen Früchten labte. Dieser Feigenbaum bedeutet den lauen Ordensmann, weil auch dieser keine Früchte mehr hervorbringt und die Vorbeigehenden nicht mehr stärkt. Er zieht sich den Fluch Gottes zu, und dieser Fluch bringt ihn zum Verdorren. Fürchten wir uns also vor der Verwünschung des Feigenbaums.
Ich bin etwas verärgert, weil ich erfahren musste, dass einige von euch die hl. Regel vernachlässigen, nicht pünktlich aufstehen und keine Betrachtung machen. Warum tut ihr das? Schon als kleiner Seminarist hätte ich nie so gehandelt. Jetzt bin ich alt, häufig kränklich, und kann die hl. Regel nicht mehr von A bis Z befolgen. Aber ich tu, was ich kann. Ich bin höchst erstaunt, hören zu müssen, dass unter euch solche Nachlässigkeiten vorkommen. Ich möchte mit meinem Tadel nicht zu weit gehen. Ihr seid keine Seminaristen. Hätte ich doch solch einen kleinen Seminaristen vor mir, solch ein „unbedeutendes Wesen“, wenn ihr wollt: ich würde ganz einfach die nötigen Mittel gebrauchen, ihn zur Raison zu bringen. Wenn er Schläge braucht, soll er sie haben, und alles ist wieder in Ordnung.
Ich bin etwas erregt und bedaure es nicht. Derlei Vorkommnisse ziehen uns den Fluch Gottes zu. Sie bewirken eine allgemeine Erschlaffung und einen völligen Zerfall. Schaut nur die protestantischen Länder an: wenn dort nicht zufällig ein tüchtiger, wachsamer, aktiver und seeleneifriger (kath.) Pfarrer wirkt, weiß man nicht einmal, welchen Glauben die dortigen Katholiken haben. Es ist eben eine Mischung aus Katholizismus und Protestantismus. So auch im Ordensleben. Die guten Ordensleute finden in ihren Bemühungen keine Stütze bei den anderen. Eine allgemeine Gleichgültigkeit macht sich breit…
P. Lambey und, als Vertreter, P. Lambert sind künftig beauftragt, über die Beobachtung unserer äußeren Verpflichtungen zu wachen. Ist man krank und kann nicht aufstehen, dann ist nichts dagegen einzuwenden. Man wende aber ruhig etwas Energie auf, denn es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang kränklich sind und dennoch ihre Pflichten erfüllen. Der hl. Aloysius und der hl. Alfons waren ständig krank. Auch unser hl. Stifter litt unter bedeutenden Beschwerden. Das hinderte ihn aber nicht, sich treu an die Lebensordnung zu halten, die er sich aufgestellt hatte. Gewiss sollen wir barmherzig sein zu den Kranken, aber auch die Kranken sollen sich vor dem Sichgehenlassen hüten.
Ich wünsche, dass wir uns alle während der Kartage bemühen, die hl. Regel gewissenhaft zu befolgen. Unser lieber Herr trägt sein schweres Kreuz und vergießt sein Blut. Möge dieses hl. Blut nicht umsonst geflossen sein, sondern von uns sorgsam aufgenommen und den Seelen zugeleitet werden, die es gerade von uns empfangen müssen.
Wir machen uns offenbar von gewissen Wahrheiten keine rechte Vorstellung. Wie die Gemeinschaft der Heiligen die ganze Kirche umfasst, so gibt es doch auch eine Gemeinschaft geistlicher Güter innerhalb der Ordensleute. Dieser Gemeinschaftsbesitz ist doch die Quelle, die Kraft und die Triebfeder des ganzen Christentums wie des ganzen Ordensstandes. Wenn in einer Ordensgemeinde nicht jeder seinen Teil an Anstrengungen und Arbeiten beiträgt, was wird dann aus dieser Kommunität? Sowohl für uns selbst wie für die anderen müssen wir uns also heiligen. Dann wird unsere persönliche Heiligkeit auch auf die Seelen unserer Mitbrüder einwirken, insbesondere auf jene Seelen, die der Herr von Ewigkeit her auserwählt hat, dass sie gerade von uns gerettet werden. Ansonsten hätte es ja gar keinen Sinn, ins Kloster zu gehen. Stellen wir uns auf diesen Standpunkt, jeder andere ist falsch.
Ich meine, jeder kann zur vorgeschriebenen Stunde aufstehen. Seien wir hart gegen uns selbst und dulden wir bei uns keine Ausnahme. Wer zur gemeinsamen Betrachtung am Morgen kommen kann, muss es tun. Kann es einer nicht, dann braucht er dazu eine Erlaubnis und muss P. Lambey darüber Rechenschaft ablegen, wie die Betrachtung ersetzen will.
Erweisen wir uns darin recht treu, das, was als gemeinsame Übungen festgelegt wurde, auch gemeinsam zu tun und zu beten. P. Perrot soll die Liste dieser Gemeinschaftsübungen im Korridor der Ordensleute anschlagen. Ein Ordensmann sollte keine Stunde seines Tagewerks verbringen, ohne auf seinen Schultern die Last seiner Ordenspflichten zu spüren: Was habe ich jetzt zu beachten, was nachher? Das ist umso dringlicher, als die Oblaten nach einem Wort der Guten Mutter die besondere Aufgabe haben, den anderen Menschen den Weg der Treue verständlich zu machen und sie auf diesem Weg zu führen. Was geschähe, wenn ihr schon das erste Wort eurer religiösen Übungen, eures Direktoriums, das von der Treue, nicht verstündet? Versteht etwa ein Möbelschreiber sein Geschäft, wenn er in einer Werkstatt herumschleudert, den anderen bei ihrer Arbeit zuschaut und nichts anderes tut als schwätzen? Wie wollt ihr den Beruf des Ordensmannes erlernen, wenn ihr euch nicht mit ganzem Eifer an die Arbeit macht und auf euren Schultern die Last der Pflichten spüren wollt?
Was ich vom Aufstehen sage, gilt natürlich vom Morgengebet, der Betrachtung, der hl. Messe, den Lesungen, den Gewissenserforschungen und dem Abendgebet. Damit kann man ein guter und heiliger Ordensmann werden. Unser hl. Gründer hat sich auf keine andere Weise geheiligt, die Gute Mutter auch nicht. Ich wiederhole: all das muss als Last jeden Augenblick spürbar werden. Fassen wir also den kräftigen Vorsatz, diese Last zu tragen, in der Beobachtung unserer hl. Regel nicht nach Belieben auszuwählen, sondern es dem Heiland gleichzutun, der vom Kreuz nicht herunterstieg. Nur so empfangen wir alle jene Gnaden, die Gott uns, für uns selbst wie für die anderen, zugedacht hat.
Das wollen wir umso treuer tun, als wir alle die Bittschriften für die Selig- und Heiligsprechung der Guten Mutter unterschreiben wollen. Gewiss werden durch die Heiligsprechung der Guten Mutter nicht auch die Oblaten heiliggesprochen, sondern nur ihr Vorbild und Modell, die Patronin des Institutes und das Musterbild eines jeden Oblaten.
Ich führe eine kräftige Sprache heute, aber ich nehme nichts davon zurück. Möge jeder diese Wahrheiten ganz tief in sich aufnehmen, damit er in Zukunft die äußeren Regelvorschriften ganz und vollständig beobachte, unablässig das Joch unseres Herrn trage, und sich jeden Augenblick fragen: Was habe ich jetzt zu tun? Welche Schuld habe ich jetzt dem Herrn zu bezahlen? Ich muss ein ganzer Oblate werden und in meinem ganzen Handel und Wandel jeden Augenblick mit dem Willen Gottes verbunden sein.
D.s.b.
