Kapitel vom 18.04.1888: Das Heilige Offizium – die Tagzeitenliturgie
Das „Officium divinum“ stellt in der Absicht der Kirche für den Ordensmann die erste Pflicht dar. Daher der Name „Officium“ (Anm.: „Dienstleistung, Amt, Pflicht, Schuldigkeit“). Die hl. Tagzeiten sind also seine oberste Berufspflicht, alles Übrige spielt nur eine zusätzliche Rolle. Die Wüstenväter der ersten christlichen Jahrhunderte, die großen Orden, die Kartäuser in Sonderheit, hatten und haben ein sehr langes Breviergebet. Täglich verwenden sie 5-7 Stunden darauf, das Stundengebet zu singen. Alles andere dient zur Erholung, Entspannung und Vorbereitung.
Wir können dem Officium nicht so viel Zeit widmen. Darum müssen bei uns die anderen Tätigkeiten die Rolle dieses offiziellen Kirchengebetes übernehmen, müssen Gott loben und verherrlichen. Dazu sind wir Ordensleute. Obwohl aber das eigentliche Officium bei uns nicht mehr diese beherrschende Stellung einnimmt, dürfen wir seinen Namen dennoch nicht Lügen strafen. Das Breviergebet sollte das das Hauptanliegen unseres Ordenslebens, sollte mit Auszeichnung unser Dienst als Religiose sein. Mag es für uns von kürzerer Dauer sein, es bleibt im Gedanken der Kirche das wesentliche Gebet, das hervorragendste, das wir anzubieten haben. Die Absicht der Kirche und der Ordensstifter bei der Einsetzung des Stundengebetes ging dahin, Gott nach dem Beispiel der Engel ein ununterbrochenes Loblied zu sichern.
„Wer diese nicht beten kann, soll sie wie folgt ersetzen…“
Ich habe unseren „Rosenkranz“ von 29 Pater noster und Ave Maria nach Rom geschickt, um ihn vom Hl. Vater mit Ablässen bereichern zu lassen.
„Dem Oblaten wird ein schlichter und schneller Gehorsam besonders empfohlen…“
Unser hl. Gründer spricht da vom Gehorsam, denn Gehorsam ist umso notwendiger je hochrangiger der Akt, die Gehorsamstat ist, die von uns verlang wird. Wenn es sich aber das Gotteslob handelt, kommt dem Gehorsam und der Pünktlichkeit bei dieser Handlung eine überragende Bedeutung zu.
„Läutet es zu den hl. Tagzeiten so betrachte er dies als den Ruf Gottes, eile beim ersten Glockenzeichen freudig herbei, versetze sich in die Gegenwart Gottes und frage sich, nach dem Beispiel des hl. Bernard: ‚Was will ich beim Gebet tun?‘“
So sehe also unsere Praxis aus: Unserer Seele die Frage stellen, was sie jetzt zu tun gedenkt, mit wem sie Zwiesprache pflegen will. Ich möchte mich hier nicht lange über das Breviergebet verbreiten, darüber ließen sich ja lange Vorträge halten. Betrachtet das Breviergebet wie auch das Marianische Officium nicht als eine Pflichtübung, sondern als etwas, was ein frommes, eifriges und verständiges Herz erfordert. Welch wirksames Mittel besitzen wir in ihm, unsere Frömmigkeit zu nähren! Damit will ich nicht behaupten, wir müssten aus unserem Breviergebet ein Studium machen. Wir können ihm dennoch viele kostbare Gedanken entnehmen, die unsere Seele nähren und stärken. Aus den Lesungen der Heiligen verdienen viele Züge, dem Gedächtnis eingeprägt zu werden. Aus den Schrifttexten, die sich auf die verschiedenen Festgeheimnisse beziehen, lassen sich zahlreiche Gedanken und Anmutungen schöpfen. Die Liturgie bietet für unsere Betrachtung eine ungemein reiche Quelle von Überlegungen. Unser hl. Stifter schöpfte emsig aus dieser Fundgrube. In Italien tut man dies mit Vorliebe, in Frankreich leider viel zu wenig. Und darin tun wir Unrecht. Es ist doch das Wort der hl. Kirche, die Eingebung des Hl. Geistes. Welch große Dienste könnte uns diese Gewohnheit leisten für Predigt und Katechese. Große Erleuchtungen kann es uns schenken, wie wir sie gar nicht ahnen. Der Geist Gottes ist ja ganz Licht und Einsicht. Noch einmal: Es ist nicht erforderlich, aufs Breviergebet viel Zeit zu verwenden. Ich rate nur, es mit besonderer Aufmerksamkeit zu beten. Dann werdet ihr erfahren, dass ihr es wohl kein einziges Mal betet, ohne wenigstens eine kostbare Perle zu finden, ob in der Heiligenlegende, oder den Homilien, in den Antiphonen, den Kapiteln oder Orationen. Das liefert euch reichlich Stoff für Unterweisungen, für sich selbst wie für die anderen.
Euer Wort wird mit Gnade erfüllt, weil es das Wort des Hl. Geistes wie seiner Braut, der Kirche ist. Es wird eure eigene Betrachtung ebenso befruchten wie euer Predigtapostolat.
Betet es darum stets mit frommer Aufmerksamkeit. Die Psalmen bergen ja wahre Schätze… Wir nähren unseren Geist viel zu wenig mit der Hl. Schrift. Das ganze Brevier ist ein wunderbarer theoretischer wie praktischer Lehrgang, ein komplettes Lehrgebäude, das ein ganzes Leben auszufüllen vermag. Auch die das kleine Officium der seligen Jungfrau beten, finden darin denselben Reichtum an Frömmigkeit und Doktrin. Leiert man dagegen sein Brevier herunter, so profitieren Geist und Herz nichts. Frömmigkeit und Verstand gehen leer aus. Beobachtet man die spanischen und italienischen Prediger, so merkt man schnell, welch ausgiebigen Gebrauch sie von der Liturgie machen. Sie ist wie ein betender und singender Religionsunterricht, der das Predigtwort vervollständigt. Hier wird Auge, Ohr und Herz gleichermaßen angesprochen und bereichert.
„Diese Frage kann er sich auch bei allen anderen Übungen stellen…“
Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass wir uns beim Gebet und in der Kirche einer frommen und abgetöteten Haltung befleißen, uns nicht aufstützen, die Beine nicht übereinanderschlagen. Wir Oblaten haben ja keine anderen Bußübungen. So lasst uns die Engel und die Menschen wenigstens durch unsere beherrschte Haltung erbauen! Sie können uns ja nicht ins Herz sehen. Unser Bußgürtel und unser härenes Gewand sei eine würdige und ehrfürchtige Haltung, Einfachheit, Ernst und Frömmigkeit.
„Zu den Übungen, die sich unmittelbar auf die Ebene und den Dienst Gottes beziehen, erscheine der Oblate im Geist demütiger Unterwerfung, mit Ernst…“
Unser Beten soll von Demut erfüllt sein und wir wollen uns dabei unserer Niedrigkeit wohl bewusst bleiben. Welch schöne Tugend, die Demut, die uns auf den uns zustehenden Platz verweist, unsere Seele mit Fröhlichkeit erfüllt, sie im Geist, im Herzen und im Gewissen entkrampft und ihr den Frieden und die Verzeihung der Sünden erwirkt. Wir dürfen die Demut nicht geringschätzen, sondern sie ständig in uns mehren. Bitten wir Gott, dass wir ihr Wesen und uns selbst recht erkennen, die Notwendigkeit einsehen, uns gering zu schätzen, unsere Fehler, Sünder und Unvollkommenheiten anerkennen, die uns in den Augen Gottes, des Nächsten wie in unseren eigenen hässlich machen. St. Johannes lehrt: Wenn wir uns selbst anklagen, ist die Wahrheit in uns und wir sind in der Wahrheit.
„Bei den Worten: Deus in adiutorium… (Anm.: „Gott, komm mir zu Hilfe [modernisiert zum Originaltext, nach der Einheitsübersetzung]“) stelle der Oblate sich vor, vom Herrn die Antwort zu erhalten: Bist auch du darauf bedacht, mich zu lieben?“
Der Gedanke, den der hl. Stifter empfiehlt, das Brevier in Gesellschaft unserer hl. Engel zu beten – indem diese einen Vers anstimmen und wir mit dem zweiten antworten – bringt vielen Priestern und Ordensleuten großen Nutzen. Für uns ist diese Anregung um wertvoller, weil sie auch von unserem Direktorium empfohlen wird.
