Kapitel vom 28.03.1888: Die gute Meinung
„Der Oblate, der im Guten zunehmen und auf dem Weg unseres Herrn vorankommen will, muss zu Beginn all seiner Handlungen…“
Dieser Artikel erweckt den Anschein, als handle er nur von irgendeiner frommen Übung, wie viele andere. Täuscht euch nicht! In diesem Dokument unseres hl. Stifters steckt ein sehr tiefer theologischer Gedanke. Ziel und Zweck der guten Meinung ist es nicht, uns eine bestimmte Frömmigkeitsübung neben anderen zu empfehlen, sondern unser ganzes Leben zu erfassen, es mit Gott zu verbinden und ihm zu weihen. Und ist das etwa nicht etwas ganz Großes? Gewiss haben die verschiedenen Ordensgründer und Meister des geistlichen Lebens ihren Jüngern mancherlei Mittel an die Hand gegeben, zu Gott zu kommen. Aber das dürfen wir wohl behaupten: keiner gab ihnen eines von solch theologischer Tiefe. Die gewissenhaft praktizierte gute Meinung führt zwangsläufig zu einem ganz Gott geeinten Leben, und das war ja auch – das kann man ruhig behaupten – das Grundanliegen der Hl. Schrift.
Nehmt die Schriften des Alten oder Neuen Testamentes zur Hand. Hat es die darin enthaltene Lehre nicht vor allem auf das Leben mit Gott abgesehen, nicht nur in einer allgemein geschöpflichen Abhängigkeit, sondern in der Gesellschaft Gottes und seinem vertrauten Umgang? Schon zu Abraham sagte Gott ganz eindeutig: Wandle vor mir… Empfängt dieser Patriarch Gottes Besuch, dann geschieht es in seinem Zelt, an seinem Herd, in trautem Zwiegespräch. Gott ist bei ihm, spricht mit ihm, berät ihn, führt ihn. Bei der Opferung Isaaks erteilt Gott die Befehle und verhindert ihre Ausführung. Abraham ist der Vater des Glaubens, der Vater religiösen Praxis bei den Hebräern, das Vorbild, dem wir nacheifern sollen. Sein Leben war eine ununterbrochene Gottvereinigung. Oder nehmt Moses: Auch er wandelt vor dem Angesicht Gottes, empfängt von ihm die Befehle, vollbringt seine großen Unternehmungen und seine Gesetzgebung in Zusammenarbeit mit Gott. Selbst bei seinem Sterben wirkt Gott mit: nach dem Wortlaut der Schrift legt Gott seine Lippen auf die Lippen seines Dieners und zieht seine Seele in sich zurück.
Auch die Propheten und Prophetenschüler leben in der Gemeinschaft mit Gott. Die Prophetenschüler führten fast ein Mönchsleben, wenn auch ohne Gelübde und ohne die speziellen Übungen des Ordensstandes. Aber sie sahen Gott ohne Unterlass und in allen Dingen und wandelten in seiner Gegenwart. Er war ihr Modell, das sie unablässig vor Augen hatten.
Oder nehmt das Buch der Makkabäer, das der Weisheit oder der Psalmen. In allen Versen des Psalms „Beati immaculati“, den die Kirche uns täglich rezitieren lässt, wiederholen wir ja zwei Mal die Befehle, Gebote und Worte Gottes.
Gewiss kommen später allerlei Andachtsübungen auf und Kirche und Laien pflegen diese Andachten, weil sich diese als notwendig erwiesen, um den Geist von weltlichen Verstrickungen abzuziehen und sie weniger ermüden als das ständige Denken an Gott. Die gute Meinung aber ist für uns kein vorübergehenden Akt wie eine Frömmigkeitsübung, sondern etwas Bleibendes, Immerwährendes, das unseren Geist völlig ausfüllt. Sie ist Abriss und Zusammenfassung aller Lehren der Hl. Schrift, die als Ganzes in diesen wenigen Zeilen des Direktoriums eingefangen sind. Das nimmt sich vielleicht einfach und harmlos aus, und doch musste der Hl. Geist selbst den hl. Verfasser dazu inspirieren.
Und darum wurde der hl. Franz v. Sales zum Kirchenlehrer erhoben, weil seine Lehre sich wesentlich mit der Frohbotschaft unseres Herrn deckt. Mit ihm zusammen leben wir inmitten der Familie Jesu Christi, mitten unter seinen Aposteln, teilen seine Arbeiten, seine Leiden, seine Nahrung. Er wird unser Emanuel, „Gott mit uns“, der stets gegenwärtige Gott. Diese Lehre hat mich bereits in meinem ersten theologischen Jahr gepackt. „Sehen Sie nur“, sagte einer meiner Professoren zu mir, „wie die Lehre des hl. Franz v. Sales vollkommenste Theologie ist. Inkarnation bedeutet Fleischwerdung Gottes. Aber nicht nur ein einziger Mensch, der Gottmensch, ist dazu bestimmt, sich mit der Gottheit nicht nur mit einem bestimmten Menschen, um den Gottmenschen zu bilden – sie wünscht vielmehr eine Inkarnation in allen zu vollziehen. Mit der ganzen Menschheit will sie eine Verbindung eingehen, will in allem Fleisch annehmen. Gewiss nicht im hypostatischen Sinn wie bei Christus, aber dennoch auf eine wirksame Weise, und zwar mit all jenen, die es wollen und können.“ Nun, ist es unsere gute Meinung, in die Praxis übertragen, nicht auch eine Art Fleischwerdung Gottes in uns? Unser Herr ist Gott, er lebt in uns und handelt mit uns.
Zu diesem Zustand der Einswerdung mit Gott müssen wir alle gelangen, der eine mehr, der andere weniger. Wenn wir uns treu erwiesen in dieser Übung, wird der Zustand, in den sie uns versetzt, für uns zu einer Quelle der Heiligkeit und wird ganz in die Nähe Gottes rücken. Mit Sicherheit werden wir dann verwirklichen, was Gott von Ewigkeit her mit uns geplant hat. Schätzen wir darum diese Anleitung hoch und sehen wir sie unter ihrem wahren Blickwinkel. Sie ist keine bloße Frömmigkeitsübung, sondern versetzt uns in einen Dauerzustand, der uns in gewissem Sinn an allen Gnaden der Inkarnation teilnehmen lässt. Der Erlöser kommt da selber zu uns, nicht wie zufällig, nicht selten und vorübergehend. Wie in einer fortwährenden Existenzweise nimmt er sozusagen in uns Gestalt an und schlägt seine Wohnstatt auf. Das ist unsere Lehrweisheit, unser Schatz, unser ein und alles. Der liebe Gott schenkt uns sicher die nötige Einsicht dafür, wenn wir nur an die gute Meinung denken und sie üben. Und das wollen wir uns jetzt wieder fest vornehmen. Haben nicht auch im großen Weltgeschehen alle äußeren Ereignisse geistige Ursachen? Was bringt denn Wirkung hervor, was allein wirkt im wahrsten Sinne? Die Stimme Gottes. Ebenso werden auch wir dank unserer Gottvereinigung mit Hilfe der guten Meinung große Wirkungen hervorrufen. Welche Hochachtung müssen wir doch vor diesem Geschenk des hl. Stifters haben!
Dieses Kapitel ist die Quintessenz der Lehre und des Geistes der Hl. Schrift, angefangen von „In principio creavit“ (Anm. „Im Anfang erschuf Gott…“) bis zum „Maranatha“ (Anm.: „Komm, Herr Jesus Christus…“) am Schluss der Geheimen Offenbarung. Es enthält alles und ist deren Substanz. Halten wir dieses Mittel also in allerhöchsten Ehren!
„Der Oblate soll diese Übung auch vor geringfügigen und scheinbar unbedeutenden Handlungen nicht unterlassen.“
Lassen wir uns ganz von diesem Leben der Gottvereinigung durchdringen und verwandeln. Halten wir daran fest mit allen Fasern unseres Herzens. Erweisen wir uns wachsam in der Erinnerung an dieses großes Mittel, durch das wir unsere Füße in die Fußstapfen unseres Erlösers setzen. Es lässt uns wie Abraham unter den Augen Gottes auf den Wegen der Vollkommenheit wandeln, erfüllt uns mit dem Geist Gottes wie die Propheten, erleuchtet unseren Verstand wie die inspirierten Apostel und Evangelisten. Es ist Kern und Mark aller Religion. Beweis dafür ist, dass die Seelen, die sich darin treu erweisen, dahin gelangen, wo Gott sie haben will.
Ich empfehle den Gebeten der Kommunität die Patres von Süd-Afrika und vom Rio Bamba. Heute habe ich kaum Zeit, euch ihre Briefe vorzulesen. Ihre Nachrichten sind sehr ermutigend. Betet, dass Gott uns mehr Arbeiter sende, man bedarf ihrer dort. Wie erbaulich sich doch unsere dortigen Patres einsetzen, wie tüchtig sie arbeiten! Wie stellen sie es aber an, so viel Gutes zu wirken? Nur mit Hilfe des Mittels, das wir soeben besprochen haben. Zweifellos stellen sie fest, dass sie mit Hilfe der guten Meinung besser predigen und arbeiten können als andere… Und so muss es sein. Das ermutigt einen jeden in seinen schweren Aufgaben. Betrachtet man die Früchte, die da in unseren Missionen heranreifen, so muss man ja ermuntert werden, weiter zu kämpfen. Am Kap wie am Rio Bamba, wie mir P. David schreibt, und wie ich selbst in Berichten über dieses Land lese, ist es genau dieser Geist, der dort benötigt wird. Soeben habe ich die kleinen Exerzitien für unsere Jugendwerke abgehalten. 250-300 Mädchen haben mitgemacht. Ich kann euch versichern, es gab greifbare Beweise göttlicher Gnade. Unser Weg ist gut und fruchtbar. Alle diese Mädchen, die nicht zum Ordensleben berufen sind, sondern zum Leben mitten in der Welt, verspürten das lebhafte Verlangen, Gott zu gehören, ihm ganz nahe zu kommen. Sie kamen nicht nur, um ihr Gewissen zu erleichtern, sondern wurden getrieben vom Wunsch nach Gottvereinigung, nach größerer Gottesnähe. Hier liegt die Wahrheit, pflegte die Gute Mutter zu sagen, das ist unser Reichtum, unser Schatz, unser ein und alles. Andere Dinge mögen auch gut sein, hier aber finden wir alles.
Nehmen wir die gute Meinung ganz ernst und üben wir treu unser kleines Büchlein, das Direktorium. Jeder von euch wird im Druck erhalten, und ihr werdet sie sorgfältig für euch behalten. Unser Direktorium dürfen wir Interessenten ruhig zeigen, die Satzungen aber überlassen wir keinem Fremden ohne Erlaubnis des Generaloberen.
