Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 07.03.1888: „Der Weg“ der Guten Mutter

Statt heute ein weiteres Kapitel aus dem Direktorium zu erklären, halte ich es für ratsamer, euch von meinen Reisen zu erzählen. Dann darüber zu sprechen, was ich vom Geist und den Gnaden der Guten Mutter Maria Salesia in mich aufgenommen habe, damit ihr euch mehr denn je an diesen Satz haltet. Er sollte das Fundament unserer geistlichen Lehrweisheit und vor allem unserer Praxis werden. Mit einem Wort, ich möchte euch heute das erläutern, was die Gute Mutter ihren „Weg“ nannte.

Dieses Wort lässt sich auf verschiedene Weisen erklären, so wie man auch das Evangelium auf mehrfache Weise und in mehrfachem Sinn auslegen kann: indem man mehr seinen Lehrgehalt oder seinen Sittlichkeitsgehalt oder die Seelenführung für den Einzelmenschen betrachtet. Sprach die Gute Mutter vom „Weg“, so verstand sie darunter häufig ihre ganz persönliche Art voranzuschreiten, die speziellen Gaben, die sie von Gott empfing, die Sondergnaden, die ihr zuteilwurden – zuteil nicht nur für sie allein, sondern zugleich für alle jene, die entschlossen waren, großmütig denselben Weg zu gehen und ihn bis zum Ende gehen. Damit gab sie also den großmütigen Seelen eine Verheißung, an die wir glauben müssen. Ich jedenfalls glaube daran felsenfest und uneingeschränkt. So viel für unsere eigene Person.

Nun unterliegt es aber keinem Zweifel, dass wir aufgrund unseres Berufes verpflichtet sind, diesen Weg auch für andere gangbar zu machen, und jene Seelen auf ihn hinzulenken, für welche Gott ihn von Ewigkeit her bereitet hat. Damit will ich euch keine Geheimdisziplin lehren, sondern ich sage es in aller Offenheit. Nicht als ob wir das jedermann erzählen sollten – viele verstünden uns überhaupt nicht, wären überrascht oder skandalisiert… Wir sollen darüber also in aller Klugheit und Diskretion sprechen und nie außer Acht lassen, dass es sich hier um eine Sondergnade handelt, um eine Gnadenwahl, zu der wir berufen wurden und zu welcher wir andere hinführen müssen. Ich sage euch das, weil ich feststelle, wie die Seelen, von diesem Schatz und dieser Gottesgabe angelockt, zu uns drängen, ganz erfüllt von der großen Wahrheit, dass die Lehre der Guten Mutter ganz neue Einsichten und himmlische Gnadengeschenke bietet, die bisher vergeblich gesucht hatten. Viele haben mir gestanden: genau das habe ich undeutlich in mir gefühlt und unablässig gewünscht, mit einem starken Verlangen, so zu sein und zu leben, und kein Buch und keine Seelenführung konnten dieses uns angeborene Verlangen stillen.

Diese Gnade ist so groß, so göttlich, dass jedermann, ob Priester, Ordensmann oder Laie, der sich diesem Weg hingibt, nicht wie beim Lesen einer Heiligenlegende von Mutlosigkeit übermannt wird, weil sie sich so ganz anders geartet finden und dieser Weg der Heiligkeit ihnen unmöglich erscheint. Beim Lesen des Lebens der Guten Mutter hingegen fühlt sich jeder über sein Heil beruhigt und er erkennt, dass er in seiner besonderen Lebenslage durchaus sein Heil wirken kann, und ist das etwa nicht Beweis einer ganz besonderen Gnade?
Kein Ordensgründer und kein Kirchenlehrer, von Franz v. Sales abgesehen, hat je diese Frage angeschnitten. Alle, die vom vollkommenen Leben gesprochen haben, teilen die Vollkommenheit diesem oder jenem Stande zu, während die Gute Mutter lehrt, jedermann könne zur höchsten Vollkommenheit gelangen, welches auch immer sein Beruf und seine Stellung in der Welt sei. Das wirkt in der Kirche wie eine Offenbarung und zieht zahlreiche Seelen, die das Verlangen spüren, ganz Gott zu gehören und nach seinem Willen zu leben.

Ich wünsche sehr, dass mich jeder von euch gut versteht, und wenn ich mich nicht klar genug ausdrücke, möge man mir Fragen stellen. Diese Gnade darf nicht einigen wenigen vorbehalten bleiben. Alle, die willens sind, Gott anzugehören, können diesen Weg verstehen und werden auf ihm zur Vollkommenheit der größten Heiligen gelangen, und zwar in jedem Stand.

Das ist unser Schatz. Da alle Menschen eben Menschen sind und jegliches Menschentun auf jedermann eine Wirkung ausübt, ist es klar, dass der Mensch in jeder anderen Art von Betätigung sich seiner selbst mehr bewusst wird, indem er zur Tat schreitet und dieses sein Tun eben ein feststellbare Wirkung hervorbringt. Man spricht zu anderen von Eifer, Apostolat. So feuert man ihren Willen an. Der menschliche Faktor tritt in Tätigkeit und bringt beachtliche Leistungen zustande. Beim „Weg“ der Guten Mutter dagegen besteht unsere ganze Betätigung allein in einer großen Treue, und diese Treue allein erzielt die Wirkung. Wir bewegen uns da auf einem Boden, wo das menschliche Tun vollständig verschwindet – nein, ich habe mich falsch ausgedrückt: das menschliche Handeln verschwindet nicht, da es die Gestalt der Treue annimmt und durch eben diese Treue wirkt. Die Gute Mutter hat nichts unternommen noch gelehrt. Sie lebte in der Verborgenheit des Klosters. Und trotzdem drängen sich zahlreiche Menschen zu ihr und sind willens, sie zu verstehen. Wem oder welchem Umstand verdankte sie also ihren enormen Einfluss? Ihrem ganz einmaligen Leben der Treue gegenüber Gott. In gleicher Weise werden auch wir, ihre Kinder, auf die Welt einwirken durch unsere gewissenhafte Treue.

Jeder von uns wird entsprechend dem Maß, das Gott uns zugedacht hat, Einfluss ausüben. Wer von diesen Gedanken nicht viel verstehen kann, wer Mühe hat, daran zu glauben und sich auf diesen Weg zu begeben, den kann ich sehr gut begreifen. Denn auch ich hätte niemals daran glauben können. Er möge dann eben die hl. Regel treu befolgen, seinem Oberen gewissenhaft gehorchen. Auch in einem Uhrwerk gibt es Räder, die sich nur langsam drehen und an einem Tag nur eine Umdrehung machen. Aber auch sie dürfen nicht fehlen und tragen bei zur allgemeinen Bewegung. So muss auch jeder von uns in seinem kleinen Wirkungskreis, ja in seiner Erbärmlichkeit sich unablässig und großmütig treu erweisen, dann werden wir alle Gottes Werk vollbringen.

Auf meinen Reisen habe ich manche Bemerkungen gehört, die mich rief beglückt haben. Nie hätte ich geahnt, dass Weltmenschen, die so ganz ihren Geschäften oder der Politik leben, auf so vollkommene Weise in die Feinheit Gottes einzudringen vermögen, und viele Menschen gelangen tatsächlich dahin mit Hilfe ihrer Treue.

Hört nur, was in Süd-Afrika vor sich geht. Ich erhielt soeben einen langen Brief des P. Simon und stelle wieder einmal fest, dass am Kap wie anderwärts gerade durch diese Treue zu den Gnaden der Guten Mutter etwas geleistet wird. Unsere Patres schreiben mir, dass sie das „Leben der Guten Mutter“ lesen, daraus großen Nutzen ziehen und sehr glücklich darüber sind, was der liebe Gott unter ihnen wirkt. Was hält den P. David aufrecht und belebt sein Vertrauen? In all seinen Briefen beteuert er mir, dass es nur dieses ist.

Der liebe Gott begnügt sich obendrein nicht nur mit diesem, er bezeugt uns darüber hinaus seinen besonderen Schutz durch ganz positive Akte. Oder war unsere Romreise nicht eine einzige große Überraschung? Wir werden ihre Geschichte niederschreiben, und das wird eine sehr beweiskräftige Geschichte sein, wie auffallend uns Gott bei allen Unternehmungen beschützt hat. Denn wem sonst verdanken wir all diese Erfolge, wenn nicht dem gewaltigen Einfluss, den der Weg der Guten Mutter ausübt? Keine menschliche Macht kann solche Wirkungen hervorrufen. Sobald die Gnade die Herzen packt und sie zusammenschließt, ist Gottes Hand im Spiel. Diese ganz unerwarteten und vollkommenen Resultate haben das Herz des Hl. Vaters und seiner ganzen Umgebung tief beglückt. Und siehe da, erst vorgestern ereignete sich etwas anderes Bedeutsames, worüber ich mir kein Urteil anmaße, dessen Beurteilung ich vielmehr der hl. Kirche überlasse: ich meine die plötzliche Heilung der Schwester Anna-Theresia, die sich in einem äußerst bedenklichen Zustand befand. Dieser Vorfall setzt zahlreiche andere Vorkommnisse ähnlicher Art fort, die in unzweideutiger Weise vor unseren Augen geschahen. P. Rollin hatte diese Heilung von Gott als Zeichen, als Beweis erbeten, dass Gott in allem mit uns gewesen ist, in den Unternehmungen der letzten Zeit wie des gegenwärtigen Augenblicks. Wieder andere baten um andere Dinge. Diese Heilung erfolgte unmittelbar und augenblicklich. Welches offenkundige Zeichen der Liebe Gottes! Aber muss ich den guten P. Rollin nicht etwas tadeln? Er lässt den lieben Gott Fehler begehen! … An diesem Tag hatte P. Rollin nämlich Kopfweh. Er wollte, dass wir überhaupt keine Feinde noch Verdrießlichkeiten mehr hätten in der Welt. „Wenn wir richtig gehandelt haben bei unseren Geschäften“, so betete er, „wenn wir treu deinen hl. Willen erfüllt haben, wenn wir alles für dich getan haben… wenn… wenn…, dann gewähre und dies und das…“
Ist das nicht doch ein bisschen Leben? Und der liebe Gott hat P. Rollin erhört und eine richtige Schwäche für ihn bewiesen. Die Tatsache (der Heilung) steht jedenfalls außer Zweifel. Ich wiederhole es: obwohl man die Person des Papstes nicht allzu sehr in den Vordergrund rücken soll in diesen Dingen – nie traf ich jemanden, der so nachhaltig von all dem beeindruckt und überzeugt war wie Leo XIII., und jetzt teilt alles, was Rang und Namen in Rom hat, seine Überzeugung. Die Meinung eines an der Kurie hoch angesehenen Prälaten kennt ihr. Er sagte mir beim Abschied: „Was die Gute Mutter unternommen hat, ist einzigartig. Ihr seid dazu berufen, der Kirche noch große Dienste zu leisten. Seien Sie versichert, dass alles, was sie gesagt hat, in Erfüllung gehen wird. Das ist meine feste Überzeugung und ich habe gute Gründe, dies zu glauben…“ Das ist ein sehr energischer und praktisch veranlagter Kopf, der sich nicht in mystische Spekulationen verliert. Er sagt sehr freimütig, was und wie er denkt.

Herrscht nicht eine auffallende Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Zeugnissen, die wir erwähnten? Zwischen dem, was man uns in Rom versicherte, dem, was uns die treuen Seelen bekunden und vor allem dem, was der lieben Gott selbst für uns getan hat? Beweist dies alles nicht, dass er mit uns zufrieden ist und auf unserer Seite steht?

Ziehen wir nun die Schlussfolgerungen aus all dem Gesagten: wir, die wir Apostel dieses Weges der Guten Mutter sein sollen, müssen selbst nach Apostel-Art: unsere ganze Wirksamkeit hängt einzig und allein von unserer großen Treue ab.