Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 15.02.1888: Der Abschluss des Falles Boursetty

Liebe Freunde, ich habe den Schülern letzten Sonntag über verschiedene Dinge gesprochen, die sie über Zweck und Erfolg meiner Romreise aufklären sollten. Ich habe ihnen nicht alles gesagt, und ihr habt nicht alle daran teilgenommen. Darum möchte ich heute ausführlicher darauf zurückkommen. Die in Rom anhängigen Fragen, die mich zu dieser Reise bestimmten, waren vier: die Seligsprechung der Guten Mutter, ihre „Lebensbeschreibung“ (Autor war Brisson selbst), die Approbation unserer Genossenschaft und die Angelegenheit der Madame de Boursetty.

Die Sache mit der Seligsprechung schreitet bis jetzt gut voran. In Rom wird derzeit daran gearbeitet, die verschiedenen Informativprozesse der Ortsbischöfe ins Italienische zu übersetzen. Soviel ich weiß, ist das mit den Prozessen von Paris, Fribourg, und Basel bereits geschehen. Nur der von Troyes bleibt noch zu übertragen. P. Rolland möge sich als verantwortlicher Vorsitzender der Kommission für die Heiligsprechung bald möglichst mit dem Postulator in Rom in Verbindung setzen. Ich selbst konnte ihn dort nicht antreffen, weil er sich gerade in Frankreich aufhielt. Er möge ihm also schreiben, um die Sache voranzutreiben.

In Rom traf ich auch mit Bischof Mermillod aus Genf zusammen, der mir versicherte, es sei an der Zeit, sich mit den Postulata, d.h., den Empfehlungsschreiben der Bischöfe an den Hl. Vater zu befassen. Das sei bei den Schweizer Bischöfen bereits erfolgt. Er empfahl mir seitens der französischen Bischöfe, diese Bittgesuche nicht von jedem Bischof gesondert einreichen zu lassen, sondern sämtlichen Bischöfen ein gleichlautendes Formular zur Unterschrift vorzulegen. Pater P. möge also eine passende Formel in lateinischer Sprache aufsetzen, worin er in kurzer und klarer Form die Beweggründe für diese Bittaktion darlegt. Desgleichen bemüht man sich aktiv um die Postulata der Heimsuchung. Andere Persönlichkeiten werden sich anschließen, sogar ein König, Herren des Hochadels und hohe Persönlichkeiten am bayerischen und württembergischen Königshof, die ihre Bittschriften getrennt absenden können.

Bischof Mermillod bezeichnete dies als eine reine Formsache. Die Empfehlungsschreiben seien zwar erfordert, würden aber nicht einmal gelesen. Wichtig sind im Augenblick nur die Übersetzungen und ihre prompte Erledigung. Ich sprach in Rom mit unserem Advokaten, der am guten Ausgang der ganzen Sache keinen Zweifel hegt.

Ich bat Msgr. Mermillod, bei seiner Aussprache an den Papst diesem die Seligsprechung dringend zu empfehlen. Er antwortete mir: „Morgen ist die Audienz, und meine Ansprache ist bereits abgeliefert und vor zwei Tagen Sr. Heiligkeit übergeben worden. Ich darf daran nichts ändern, weil alles schon vorher dem Papst unterbreitet sein muss. Das tut mir sehr leid.“ Offenbar dachte er aber des Nachts darüber nach, weil er seine Ansprache dennoch änderte. Er fügte nämlich eine formelle Bitte um die Seligsprechung der Guten Mutter hinzu. Die bei einer Pilgerfahrt anwesenden Schweizer beschlossen sogar, eine Kommission einzusetzen, die überall Empfehlungsschreiben erbitten solle. Nach der Audienz sagte mir Bischof Mermillod: „Der Papst versicherte mir soeben, ich habe sehr gut gesprochen. Aber“, fügte er hinzu, „warum haben Sie mir nicht vorher alles vorlegt, was Sie sagen wollten? Ich wäre auf alles eingegangen.“ Mit diesen huldvollen Worten wollte sich S. Heiligkeit entschuldigen, in seiner Antwort die Gute Mutter nicht erwähnt zu haben, weil er auf dieses Thema nicht gefasst war.

Der Kardinalvikar Ponent ist für die Sache sehr eingenommen. Ihr erinnert euch, wie er mir bei meiner letzten Reise sein hohes und warmes Interesse bekundet hat, dass die Gute Mutter heiliggesprochen werde. Er wie die übrigen Kardinäle zeigten sich sehr erfreut über die Charakterbilder, die ihnen von Seiten der Heimsuchung zugegangen waren.

Was nun die Biographie der Guten Mutter anbelangt, so wisst ihr dass ich im Juli ein Schreiben der Index-Kongregation erhalten habe des Inhaltes, dass niemand das Recht hat, mein Buch zu tadeln. Das Urteil über die übernatürlichen Fakten stünde allein dem Hl. Stuhl zu. Die Index-Kongregation hat mir lebhaft versichert, dass das Buch unanfechtbar sei.

Was die Approbation unserer Satzungen betrifft, hat sich im letzten Monat eine Art Koalition gebildet, um den Hl. Stuhl zu beeinflussen, seine Entscheidung zu widerrufen. Mehrere hochgestellte Persönlichkeiten haben es für richtig gefunden, sich in diese große Sache einzumischen, und ihr Vorgehen hat in Rom großes Aufsehen erregt.

Man unternahm sogar energisch beim Papst Schritte, um ihn zu einer Billigung (dieser Intervention) zu bewegen. Rom antwortete auf all dies, dass die in voller Kenntnis der Sachlage getroffenen Entscheidungen unwiderruflich seien. Und so geschah es auch, trotz des Lärmes, den man darum entfachte… Die Römischen Kongregationen blieben fest und rügten durch eine amtliche Urkunde das Verhalten der Kläger. Da alles Vergangene vergessen sein soll, möchte ich nicht darauf eingehen. Haben unsere Patres von diesem Schriftstück Kenntnis genommen? Nein? Ich musste es an alle Bischöfe Frankreichs weiterleiten. Sein Hauptinhalt war, dass die Gegnerschaft einiger weniger den Wert der erteilten Approbation nicht mindern könne  und ferner, dass keinerlei ernstzunehmende Beschwerden gegen uns vorgebracht worden seien. Kurz und gut, wir haben auf der ganzen Linie recht behalten. An sich fehlte diesem ganzen Streit jegliche solide Grundlage. Denn die vom Zaun gebrochen, waren in das Streitobjekt überhaupt nicht eingeweiht und kannten uns in keiner Weise. So wie der sturmgeschüttelte Baum seine Wurzeln nur noch tiefer in den Boden gräbt, so konnten auch diese Prüfungen uns nur noch mehr stärken und festigen. Man war so weit gegangen zu behaupten, es sei für das Heil der Kirche unerlässlich, die erteilte Billigung unserer Genossenschaft zu widerrufen. Doch die Beweise blieb man schuldig. Das war eine höchst unangenehme Geschichte gewesen.

Ich muss hinzufügen, dass die Römischen Kongregationen mir Beweise größter Hochachtung und Liebe gegeben haben. Ein hervorragender Prälat beteuerte mir am Schluss: „Herr Pater, die Kongregation, die Sie gegründet haben, hat der Kirche bereits sehr große Dienste geleistet. Sie steht auf soliden Grundmauern, die man andernorts vergeblich sucht. Sie werden noch andere Prüfungen zu bestehen haben. Doch seien Sie versichert: Ihr Werk wird sich ausbreiten und ungewöhnlich viel Gutes wirken. Es ist ganz offenkundig Gottes Werk.“
P. Deshaires war Zeuge dieser Worte.

Nun zur Affäre Boursetty. Jetzt, wo der Friede (Anm.: „zwischen P. Brisson und Bischof Courtet“) wieder hergestellt ist, darf ich darüber freimütig sprechen. Ich ging in die Ewige Stadt mit der festen Absicht, keinen Prozess zu führen oder vor Gericht aufzutreten. Der Bischof von Troyes hingegen hatte seine Maßnahmen ergriffen, ein dickleibiges Aktenbündel herbeigeschleppt und einen Advokaten aufgeboten. All seine Vorwürfe sollten soeben gedruckt, übersetzt und an jedermann verteilt werden. Er griff mich von zwei Seiten an: er wollte erstens, dass ich Rechenschaft ablege über das mir (von der Wohltäterin und Stifterin Boursetty für ein Waisenhaus) übergebene Geld und behauptete zweitens, dass ich ihn verleumdet habe. Für Letzteres rief er alle Zensuren der Kirche auf mein Haupt herab. Diese zweite Anklage ist reichlich ungewöhnlich, denn nie habe ich über ihn etwas gesagt, außer ein paar Worte in unserem Kreise hier, weil ich mich für verpflichtet hielt, die Kommunität auf dem Laufenden zu halten über Dinge, die sie berühren. Er dagegen hatte sich nicht gescheut, Dokumente, die nur zur Kenntnis der hl. Kirche gelangen durften, zu veröffentlichen und seinem ganzen Diözesanklerus zugänglich zu machen, was großes Ärgernis im ganzen Bistum erregt hatte. Er erwartete sich also ein zweifaches Resultat von seinem Prozess: erstens, das mir von Madame Boursetty anvertraute Geld ausgehändigt zu bekommen und zweitens über mich wegen angeblicher Verleumdungen Kirchenstrafen verhängt zu sehen. Als mir klar wurde, worauf er hinauswollte, erklärte ich sofort: „Ich will keinen Prozess und verzichte auf einen Advokaten… Ich bin ein Kind der Hl. Kirche, und der Papst ist mein Vater. Ich appelliere an sein Urteil und unterwerfe mich von ganzem Herzen seiner Entscheidung.“ – „Aber“, antwortete man mir, „der Papst wird kein Urteil fällen. Die Sache ist bereits in den Händen der Gerichte, die die Entscheidung zu fällen haben.“ Ich aber wollte weder von einem Gericht noch von einem Prozess was hören, weil ich einen ungeheuren Skandal voraussah… Diese meine Entschlossenheit, dem Papst die Entscheidung zu überlassen, wurde von der Römischen Kongregation mit höchstem Wohlwollen aufgenommen. Der als Richter fungierende Kardinal fragte mich daraufhin: „Wollen Sie eine Zusammenkunft mit dem Bischof von Troyes, bei der jeder seine Beweggründe vorträgt, und eine Versöhnung gesucht wird?“ – „Von Herzen gerne, Eminenz!“ gab ich zur Antwort. Es war Samstag. Die Zusammenkunft wurde auf Montag festgesetzt.

Ich hatte Bischof Courtet noch nicht zu Gesicht bekommen in Rom. Bei meiner Ankunft dort hatte ich in seiner Unterkunft vorgesprochen, er hatte meinen Besuch erwidert, aber wir hatten einander nicht angetroffen. Als ich Samstagmittag in mein Quartier zurückkehrte, wartete ein Sekretär der Kongregation auf mich und sagte: „Hier überbringe ich Ihnen die Aktien des Prozesses, den der Bischof gegen Sie anstrengen will, damit Sie darin Einsicht nehmen können.“ – „Ich will sie nicht sehen“, sage ich, „sondern will um jeden Preis zu einem Vergleich kommen. Sonst könnte ich darin Dinge finden, die mich traurig stimmen würden und mir die Aussöhnung erschweren könnten.“ Doch der Sekretär bestand darauf: „Vielleicht wäre es aber doch notwendig, dass Sie erführen, was man von Ihnen überhaupt will.“ – „Tragen Sie alles zurück, ich will damit nichts zu tun haben.“ – „Aber ich bringe Ihnen das ganze Bündel ja auf Geheiß des Herrn Kardinals. Die Akten dürften wie alle anderen Dokumente die Räume der Hl. Kongregation überhaupt nicht verlassen.“ P. Deshaires meldete sich nun zu Wort und wünschte Einsicht zu nehmen. Er warf einen Blick hinein, und ich sah, wie er weiß wurde wie die Wand. „Nur der Satan kann solche Dinge ins Werk setzen.“, rief er aus. Nun begann auch ich zu lesen und brach augenblicklich in ein schallendes Gelächter aus. Die Lektüre tat mir unaussprechlich wohl. Im Verlauf dieses ganzen Zwistes hatte nie Hass oder Rachsucht verspürt, wohl aber oft große Pein und Traurigkeit. All das war wie wegwischt, als ich erkannte, was man mir da vorwarf. „Wenn Prälat B. mich einen Dieb nennt und zur Stütze seiner Anklage behauptet, ich habe den Domturm von Troyes in meine Tasche gesteckt – wie sollte ich mich da aufregen und ihm etwas nachtragen? Nun waren aber sämtliche Anklagen gegen mich von solcher Beweiskraft. Wie froh war ich jetzt, dass ich mich auf keinen Prozess eingelassen hatte. Alle diese Auseinandersetzungen hätten einen abscheulichen und skandalösen Rechtshandel ausgelöst. Schließlich hätte man noch die Verleumder vor Gericht zitieren müssen, und dabei handelte es sich ja um richtige Verbrechen – ein schrecklich!
Wenn er klagt, dass gewisse Dinge ruchbar geworden sind, so liegt die Schuld allein bei ihm, weil er all dies vor sämtlichen Priestern seiner Diözese breit treten und mit entsprechenden Kommentaren versehen ließ.“ Nun war auch P. Deshaires am Ende seiner Geduld: „P. Brisson ist von Ihnen vor dem ganzen Klerus der Diözese und sämtlichen Bischöfen Frankreichs beschimpft worden. Ich werfe darum Ihre Anklage auf Sie zurück. Was unser Pater dem Papst gesagt hat, hielt er vor uns geheim und wir erfuhren kein Sterbenswort darüber. Sie aber haben es zu den Ohren der ganzen Diözese gebracht und haben an alle Bischöfe einen Brief geschrieben, worin Sie den Pater als Schurken, Verleumder und Lügner bezeichneten.“ Als der Kardinal sah, wie der Streit immer hitziger wurde, griff er in die Debatte ein: „Schweigen Sie jetzt!“ gebot er P. Deshaires. Dann fragte er mich: „Was meinen Sie dazu?“ – „Alles, was Sie tun wollen, ist mir recht. Ich bitte Sie nur um eines: machen Sie Schluss mit diesem Streit, dass er ein für allemal aus der Welt geschafft werde!“ – „Wollen Sie die Sache heute noch zum Abschluss bringen?“ – „Jawohl, noch heute!“ – „Heute Vormittag noch?“ – „Jawohl, ich flehe Sie an, der Streit dauert ja schon 12 Jahre.“ – „Gut“, sagte der Kardinal darauf, „wer soll das Waisenhaus übernehmen?“ – „Ich“, rief der Bischof. – „Aber, Exzellenz“, werfe ich ein, „das Waisenhaus soll 37 Kinder beherbergen, dazu noch drei andere wegen des Erweiterungsbaus, und all das zu genau festgelegten Bedingungen.“ – „Diese Bedingungen werden eingehalten werden.“ – „Aber, Exzellenz, wie wollen Sie für all das aufkommen?“ – „Das ist jetzt nicht mehr Ihre Aufgabe“, äußerte sich der Kardinal, „sobald er die Verantwortung übernommen hat.“ – „Aber er kann es ja niemals durchhalten“, gebe ich zu bedenken. „Sagen Sie jetzt nichts mehr, es ist nicht mehr Ihre Sorge, lassen Sie ihn in Ruhe!“ redete mir der Kardinal zu. „Ich bitte Eure Eminenz, darauf bestehen zu dürfen. Ich möchte doch, dass das Werk nicht untergehe“, versuche ich noch einmal. „Sie haben jetzt keine Verantwortung mehr dafür“, beharrt der Kardinal. „Und der Bischof wird dann nicht mehr Krieg führen gegen mich?“ – „Jawohl“, ruft da der Bischof, „ich verspreche Liebe und Schutz dem P. Brisson, seinen Werken, den Oblaten und Oblatinnen, allem, was Sie unternehmen, jetzt und in Zukunft.“ – „Exzellenz, das wäre zu schön!“ Das ganze Tribunal bricht in Lachen aus.

Jetzt zieht der Bischof sein Notizbüchlein heraus und setzt die Bedingungen der Übergabe fest. Er will es so übernehmen, wie es derzeit ist, bezahlt die Auslagen, die gemacht wurden und die sich auf 25.000 Franken belaufen. Aber er verlangt von mir eine Summe Geld, die festgelegt werden soll auf Grund einer Abrechnung, die ich in Gegenwart seiner Rechtsvertreter gemacht und aberkannt haben soll. „Das lehne ich entschieden ab, Exzellenz.“ Der Bischof besteht aber darauf. „Sie sprechen von einer Abrechnung, die es gar nicht gegeben hat“, sage ich. „Als bei mir nach dem Ableben der Frau Boursetty ein Notar und ein Anwalt in ihrem Auftrag erschienen und mich aufforderten, 300.000 Franken zurückzubezahlen, fragte mich im Verlauf des Gespräches der Anwalt des Herrn Paris, wer Madame Boursetty überhaupt sei. Er kannte sie nicht und verstand von der ganzen Sache kein Wort. Ich sprach mich daraufhin mit meinem Generalrat und suchte Juristen auf.“ Man gab mir zur Antwort: „Da wahrscheinlich ein Testament gegen Sie existiert (Anm.: „Madame Boursetty hatte offenbar auf dem Sterbebett, von dem P. Brisson mit Gewalt ferngehalten worden war, ihre drei dem Pater übergebenen Testamente auf Veranlassung des Bischofs abgeändert.“), müssen Sie Stellung nehmen. Vor dem Gericht, das darüber zu entscheiden hat, werden Sie als Verwalter der Summer betrachtet, die Madame Boursetty Ihnen übergeben hat. Ich stellte also eine Abrechnung auf, um dem Zivilgericht Rede und Antwort stehen zu können, während ich in foro interno und nach dem kanonischen Recht keinerlei Rechenschaft abzulegen brauche. Es ist mein Geld und ich dulde keine Einmischung.“

Darauf schaut mich der Gerichtsvorsitzende an und sagt: „Aber P. Brisson, Sie werden doch für die ersten Jahre etwas Geld beisteuern wollen?“ – „Soll ich 50.000 Franken geben?“ Der Kardinal fragt den Bischof, ob er damit zufrieden sei. Dieser verlangte aber 70.000, ging aber dann auf 68.000 und schließlich auf 60.000 herab. Der Kardinal fragte mich wieder leise um meine Meinung. „Ich überlasse die Entscheidung Eurer Eminenz.“ – „Und wenn wir 55.000 sagen?“ – „Dann bin ich einverstanden.“ Damit waren 55.000 beschlossen. Aber in wie viel Jahren zahlbar? Der Bischof wünschte sich innerhalb 4 Jahren, ich innerhalb 7 Jahren. So einigte man sich auf 5 Jahre. In diesem Augenblick zupfte mich P. Deshaires am Ärmel und raunte mir zu: „Sie machen ein viel zu zufriedenes Gesicht. Setzen Sie doch eine den Umständen entsprechende Miene auf, wenn nicht alles schiefgehen soll!“ Ich war ja in der Tat ungemein zufrieden: das erreichte Resultat war ja bedeutend besser als das, was ich vorgeschlagen wollte, nämlich: das Waisenhaus behalten, mit 50.000 Franken Ausgaben auf der einen Seite und 30.000 auf der anderen, zusammen also 80.000. Ich erkannte, dass wir so, ohne etwas auszugeben, eine jährliche Ersparnis von 15.000 Franken machen würden, die das Waisenhaus brauchte.

Damit war alles geregelt, und es blieb nur noch, eine passende Schlussformel zu finden, auf die der Bischof großes Gewicht legte. Man musste ihm diese Freude machen. „Ich will, dass man sage, P. Brisson habe mich um Verzeihung gebeten“, verlangte er. – „Exzellenz, ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu versichern, dass ich Sie niemals um Verzeihung bitten werde.“ Jetzt gerät P. Deshaires in Erregung. „Exzellenz, Sie vertauschen die Rollen. An Ihnen ist es, sich zu entschuldigen, weil Sie P. Brisson verleumdet haben!“ – „Wollen Sie jetzt sofort schweigen!“ ruft der Kardinal dazwischen, „sonst setze ich Sie vor die Tür.“ Schließlich einigt man sich auf die Formel: „P. Brisson erklärt, niemals die Absicht gehabt zu haben, den Bischof von Troyes verleumden oder beleidigen zu wollen. Sollte ihm im Verlauf der Auseinandersetzungen ein Wort entfallen sein, das der bischöflichen Ehre und Würde zu nahe trat, so erklärt er hiermit, es zurückzunehmen.“ Der Bischof wollte noch, dass man dies und jenes hinzufüge. Sein Sekretär schaltete sich ein, P. Deshaires widersprach. Man verbot den beiden, weiterzureden. „Und Sie“, fragte mich der Vorsitzende, „was sagen Sie dazu?“ – „Eminenz, man kann schreiben, was man will, vorausgesetzt, dass ich nicht um Verzeihung bitten muss.“ Und dabei blieb es. „Aber“, sagte ich zum Kardinal, „es ist ja alles sehr schön und gut, was wir da niederschreiben. Wenn wir, der Bischof und ich, aber einmal nach Frankreich zurückgekehrt sind, und uns mehr daran halten?“ – „O, da dürfen Sie ganz beruhigt sein. Wir werden ihn veranlassen, seine Unterschrift darunter zu setzen.“ Und er setzte sie anstandslos unter das Protokoll.

Nun erhob sich Seine Exzellenz feierlich von seinem Sitz und zeigte sich ganz groß: „Eminenz, es bleibt mir noch übrig, P. Brisson von ganzem Herzen zu danken und ihn zu umarmen!“ Und wir warfen uns gegenseitig in die Arme zum Friedenskuss. Es war eine großartige und rührende Szene. Jetzt kennt ihr also auch diese Affäre. Infolgedessen hat unsere Genossenschaft im Jahr 15.000 Franken weniger Ausgaben. Fragen meiner eigenen Ehre und des Geredes der anderen spielen für mich so viel wie keine Rolle. Ich schätze Zahlen höher. So zeitigte meine Romreise also einen schönen Erfolg.

In der ewigen Stadt bewies uns jedermann größtes Wohlwollen. Durch meine Weigerung zu prozessieren, gewannen wir die Sympathien aller. „Jetzt müssen Sie aber den Papst aufsuchen“, drängten mich die Herren der römischen Kongregationen, „und ihm mitteilen, dass der Friede wiederhergestellt ist.“ Das war leichter gesagt als getan. Wohl bekamen wir den Papst zwei Mal in öffentlicher Audienz zu Gesicht und einmal in halbprivater. Ich glaube nicht, dass es vielen Bischöfen, die den Winter über nach Rom kamen, besser erging. Das erste Mal wurden wir mit den Vinzenzkonferenzlern eingelassen. Der Hl. Vater hielt dabei eine wunderschöne Ansprache. Tags darauf fand eine mehr spezielle Audienz statt. Der Pfarrer von M. und drei Geistliche von Dijon waren zugegen, darunter M. Ch., der nur dank meiner Eintrittskarte Einlass fand. Er hätte sonst am nächsten Tag abreisen müssen, ohne den Papst gesehen zu haben. Man stellte P. Deshaires und mich abseits in eine Türnische. Der Papst (Anm.: „es war Leo XIII.“) ließ alle stehen und kam auf uns zu: „Oh, P. Brisson“, rief er aus, „Sie sind ein Mann des Friedens. Das ist recht so. Tun Sie alles, was in Ihren Kräften steht, den Frieden zu erhalten und zu vertiefen!“ Er sah sehr müde aus, und bewies uns eine derartige Güte, dass ich ganz vergaß, dass es der Papst war und ihn nicht einmal um seinen Segen bat. Ich stand so neben ihm wie jetzt neben P. Gilbert.

Am Abend speisten wir beim Oberst der Schweizer Garde. Auch Bischof Mermillod und viele Offiziere der päpstlichen Garde waren zugegen. Bischof Mermillod zeigte sich sehr wohlwollend, war sehr zufrieden über unsere Versöhnung und nannte sie eine gute und glückliche Sache. Nur ein Unglück passierte mir an diesem Tag: der Kaplan der Schweizer Garde nahm nach Tisch aus Versehen meinen neuen Hut mit und ließ mir seinen alten zurück, sodass ich mit diesem meine sämtlichen Besuche machen musste.

Über alles Gesagte empfehle ich die größte Verschwiegenheit. Ich musste alles der Kommunität mitteilen, aber dabei bleibe es. Macht es wie ich: ich habe alles vergessen. Die Aussöhnung ist für mich perfekt. Nicht ein Milligramm bleibt mir im Herzen davon zurück. Ich wiederhole es: gerade die Lektüre all dessen, was man da gegen mich zu Papier gebracht hatte, verscheuchte all meinen Kummer und vermehrte mein Verständnis für die arme Menschennatur. Es war einfach zu unglaublich, was da alles behauptet wurde. Man erklärte mich zum Dieb, Lügner, Skandalpriester. Seit meinen Niederen Weihen war ich offenbar das Ärgernis der ganzen Diözese gewesen. Und alles war geschrieben und unterschrieben aus der Umgebung des Bischofs! Wahrlich, ein unbezahlbarer Unterricht in angewandter Philosophie. Wenn man alt wird, und der Kopf lässt nach, wird der Mensch, ein sonderbares Wesen, zu den merkwürdigsten Dingen fähig. Lernen wir daraus für unsere eigene Zukunft. Misstrauen wir uns selbst und nehmen wir es als Tatsache hin, dass der Mensch bei bestem Gewissen zu allem fähig ist. Man erzählt ihm Dinge, die seine Fantasie beflügeln… Hat er eine üppige Fantasie, ein schwaches Herz und einen empfindlichen Magen – gerade dieser ist meistens der empfindliche Punkt – „primo vivere, deinde bene vivere.“ (Anm.: „zuerst leben, dann gut leben.“), nimmt man solch einen Menschen also von dieser Seite, dann kann man mit ihm die tollste Dinge anstellen… Noch einmal also bitte ich um Diskretion.

Alles in allem ruhte auf meiner Romreise der Segen Gottes. Als Tischgenossen hatten wir in unserer Unterkunft unsere besten Freunde aus der Schweiz. Alles fanden wir so, wie wir es nur wünschen konnten. Innerhalb von 10 Tagen regelten wir Geschäfte von 10 Monaten, ja von 10 Jahren.

Für alles wollte ich den Rat der Guten Mutter einholen, wie das meine Gewohnheit ist. Als alles beendet war, führte ich mit ihr ein so ausgiebiges Gespräch, wie ich es seit ihrem Hinscheiden nicht mehr getan hatte. Sie schien mir außerordentlich zufrieden zu sein, dass alles so geregelt war. Genauso hätte sie auch gehandelt. Wir haben ihre Absichten treu ausgeführt, und Gott wird uns weiterhin segnen, wie es der oben erwähnte Prälat vorausgesagt hat.