Kapitel vom 18.01.1888: Die heiligen Tagzeiten
„Der Oblate, der nicht zum Breviergebet verpflichtet ist, betet für gewöhnlich die hl. Tagzeiten Unserer Lieben Frau (Officium Parvum). Wer diese nicht beten kann, möge sie wie folgt ersetzen…“
Das kleine Offizium kann ich nicht genug empfehlen. Es ist voller Poesie, Frömmigkeit und Gemüt. Die Laienbrüder, die es beten, tun gut daran, sich mit der französischen, (bzw. für die Bundesrepublik Deutschland, der deutschen) Übersetzung vertraut zu machen, um den Sinn der Psalmen, Antiphonen und Lesungen zu verstehen. Es ist köstlich und beglückend, sodass jene von uns, die es früher einmal gebetet haben, sich noch daran erinnern und einen unauslöschlichen Eindruck davon bewahrt haben. Ein ganz eigener Charakter haftet ihm an, eine Weihe und Salbung, eine Innigkeit und Frömmigkeit, die die Seele entzückt. Und das nicht nur auf Grund der Worte, die man ausspricht, sondern dank einer besonderen Gnade, die ihnen innewohnt. Die hl. Jungfrau verbindet damit besondere mütterliche Gnaden, Vorzugsgnaden, wie nur sie solche zu vermitteln vermag, nicht nur von der Art „gratis datae“ (Anm. „unschuldig verliehen“), von denen der hl. Stifter irgendwo spricht, sondern „gratiosissimae“ (Anm.: „aus reinster Huld verliehene“), die in der Seele einen reichen Schatz von Frömmigkeit zurücklassen.
Manche Ordensleute fügen zu ihrem Brevier noch das „Officium Parvum“ oder das Totenoffizium hinzu, je nach dem Geist ihrer Kongregation. Ich empfehle den Laienbrüdern eine ganz besondere Aufmerksamkeit beim Beten dieses Marianischen Offiziums. Sie finden darin eine Seelennahrung, ein verborgenes Mannah, eine Salbung, die die hl. Jungfrau hineingelegt hat. Unser hl. Stifter hat dieses kleine Offizium seinen Schwestern als Stundengebet vorgeschrieben, und das nicht bloß wegen seiner Kürze, sondern gerade wegen dieser ihm innewohnenden Anmut und Lieblichkeit.
Mit 29 Paternoster und Ave Maria und einem Credo sollen es jene, die es nicht beten können, ersetzen. Nicht wenige achtbare Personen haben mir des Öfteren vorgehalten: Warum lassen Sie denn nicht anstelle der Paternoster einen Rosenkranz beten? Ja, warum? Weil es eben unserem hl. Gründer so richtig erschien, und daran müssen wir festhalten: Ich wünsche keine Änderung. Viele Seelen haben sich geheiligt durch das Beten dieser Anzahl Paternoster und Ave Maria. Aber warum gerade 29 und nicht 30? Da bin ich überfragt. Wir müssen annehmen, dass in gewissen Zahlen ein tieferer Sinn liegt. Ohne übertreiben zu wollen, wollen wir uns daran erinnern, was der hl. Augustinus im „Gottesstaat“ von den Zahlen und ihrer Bedeutung sagt. Er war ein wenig Pythagoreer. Sprach Augustinus der Zahl aber eine gewisse Kraft zu, dann schloss sich Franz v. Sales ihm eben an. Könnte man nicht fragen, der dem hl. Dominikus vom Himmel geoffenbart und übergeben wurde, gerade diese bestimmte Zahl von Paternoster und Ave Maria aufweist? Bedenkt einmal, wie viel Gnaden gerade an dieses Gebet mit dieser Zahl von Paternoster und Ave Maria geknüpft wurden. Und welches Ansehen genießt das Rosenkranzgebet gerade in unserer Epoche, bei Leo XIII. und in der ganzen Christenheit! Warum sollen wir also nicht auch an unserer Zahl festhalten?
Könnten wir übrigens für unsere Brüder, die ihre Paternoster und Ave Maria beten, nicht auch einen eigenen Rosenkranz anfertigen lassen, der große Perlen aufwiese für die Paternoster, kleine für die Ave Maria und etwas Besonderes für das Credo? Eine lange Überlieferung hat diese Zahl 29 geheiligt, seit 200 Jahren bediente man sich ihrer in reicher geistlicher Frucht. Und wenn unsere Genossenschaft an Ausdehnung weiter zunimmt, könnten wir unseren „Rosenkranz“ sogar mir Ablässen bereichern lassen. Vor St. Dominikus gab es bereits andere Rosenkränze. Der hl. Hieronymus erzählt, die Mönche der Wüste Sete hätten sich zur Erleichterung eines Lederreimens bedient, in den sie eine gewisse Anzahl Knoten machten. Während der Arbeit oder auf- und abgehend hätten sie dann mit Hilfe dieser Gebetsschnüre ihre Gebete verrichtet. Finden wir eine ähnliche Zahlensymbolik nicht auch bei den Novenen und Triduen? Denkt nur an die Brevier-Lesung, in der Augustinus die Zwölferzahl des Apostelkollegiums als die vollkommene Zahl bezeichnet, weil sie sich aus den Zahlen 3, der heiligsten Dreifaltigkeit, und 4, der vier Teile der Welt (Himmel, Erde, Luft und Wasser) zusammensetzt. Halten wir darum, liebe Mitbrüder, treu an unserer Paternoster-Zahl fest!
„Dem Oblaten sei ein schlichter und schneller Gehorsam besonders empfohlen. Läutet es zu den Tagzeiten, so betrachte er dies als den Ruf Gottes… und frage sich: was will ich denn beim Gebet tun? Diese Frage kann er sich auch bei anderen Übungen stellen.“
Diesem Gedanken misst unser hl. Stifter große Bedeutung bei. Denn so wie er für das hl. Offizium Pünktlichkeit verlangt, empfiehlt er diese Eigenschaften auch für alle Übungen. Er stellt sie alle auf die gleiche Stufe wie das Stundengebet. Auch ihnen haftet in seinen Gedanken etwas Heiliges, Ehrwürdiges und Erhabenes an. Darum vergleicht er sie sogar mit dem göttlichen Offizium (Gottesdienst). Sie alle nehmen gewissermaßen den Rang von Sakramentalien ein, die Mahlzeiten, Rekreationen, Studien ebenso wie die Betrachtung und das Breviergebet. Alle haben sie etwas Heiliges und Heiligendes an sich, weil alle von der Ordensregel vorgezeichnet und damit von Gott gewollt sind. Bezeugt die bekannte Anekdote aus dem Leben des hl. Aloysius von Gonzaga nicht denselben Geist? Im römischen Kolleg spielte er mit einer hohen Persönlichkeit eine Partie Schach, als man den jungen Novizen die Frage vorlegte, wie ihre Reaktion ausfiele, wenn sie in einer Viertelstunde sterben müsste. Der eine antwortete dies, der andere das, Frater Aloysius aber versicherte, er bliebe bei seinem Schachspiel, weil er sich im Willen der hl. Regel und damit im Willen Gottes wisse.
Möchte uns dieser Gedanke den prompten Gehorsam bei jeder Handlung erleichtern. Stellen wir uns gern die Frage des hl. Bernhard, was wir mit der gerade fälligen Übung überhaupt bezwecken.
„Bei den Übungen, die sich unmittelbar auf die Ehre und den Dienst Gottes beziehen, erscheine der Oblate im Geiste demütiger Unterwerfung, mit Ernst und Andacht.“
Nicht nur unser Geist möge von solcher Gesinnung beseelt sein, auch der Leib nehme daran teil. Es ist nämlich bei uns Brauch, dass wir uns in der Kirche nicht aufstützen, sofern unsere Gesundheit dies erlaubt. Beim Knien stützen wir uns nicht auf die Ellbogen noch lehnen wir uns beim Sitzen an. Dies wollen wir besonders bei der Vorbereitung auf die hl. Messe und während der Danksagung beachten. Schlagen wir auch nicht die Beine übereinander! Vor der Tür ihres Fürsten stehen die Wachtposten aufrecht und gerade. Selbst kleine Edelknaben, die zum Ehrendienst während der Salbung des neuen Königs ausregungslos wie Statuen umstehen. Während der Krönung Karls X., brachen drei Pagen ohnmächtig zusammen, weil sie solch übertriebener Selbstbeherrschung nicht gewachsen waren.
Wir Oblaten sollen uns gerade durch eine bescheidene und beherrschte Haltung auszeichnen. Unsere Hände gehören nicht in die Taschen, beim Gehen wollen wir nicht mit den Armen und Beinen schlenkern oder den Rücken beugen. Auch keine steife Haltung sollen wir einnehmen, sondern eine schlichte, bescheidene und schickliche, die Achtung und Ehrfurcht einflößt. Diese Körperbeherrschung ziemt sich doppelt beim Gebet und in der Kirche.
Vom „Geist demütiger Unterwerfung“ spricht das Direktorium. Wie doch gerade diese Tugend dem Ordensmann gut ansteht! Sie gebietet ja nicht nur, von der eigenen Person gering zu denken. Es ist überhaupt nicht leicht, sie zu erklären. Sie tut sich vor allem in unserem Verhalten dem Nächsten kund. Oder wollen wir etwa jener Dame gleichen, die eine sehr schöne Betrachtung über die Geduld machte und der Kammerfrau, die ihr etwas sagen wollte, eine Ohrfeige verabreichte? Auch lange Betrachtungen über die Demut machen uns nicht demütiger, wenn wir die Mitmenschen nicht so nehmen, wie sie sind und wie der liebe Gott sie geschaffen hat. Es sei denn, wir sind mit ihrer Leitung betraut. Jeder Charakter weist Vorzüge und Nachteile auf, und letztere gehen uns nichts an. Nie dürfen wir ihm unsere Hochachtung verweigern. Welche Erbärmlichkeiten er auch immer an sich tragen oder begehen mag, halten wir uns selbst nie für besser als ihn. Das zöge uns Gottes höchstes Missfallen zu. Dieses Verhalten hat das Evangelium bekanntlich in einer markanten Parabel gebrandmarkt (Anm.: „Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner.“). Diese Haltung (des Zöllners) sollte uns dem Nächsten gegenüber zur festen Gewohnheit werden.
Wenn wir nun zum Offizium oder Gottesdienst gehen, aus der Menschen Kreis in die Nähe Gottes, wird erkennbar, was wir sind und taugen, und vor allem, was wir wären, wenn uns seine Gnade nicht stützte. „Demütigen Sinnes sein“, heißt also, sich genau auf den Platz zu versetzen, der uns in Wahrheit zukommt. Heißt, uns recht erkennen und richtig einschätzen. Das Gute in uns – wessen Werk ist es denn? Sicher nicht das unsere, denn ohne Gnade vermögen wir nichts. Und vermeiden wir, etwas mehr zu besitzen als unser Nebenmann – verpflichtet uns das nicht, umso tiefer in unser eigenes Nichts hinabzusteigen? Wem mehr gegeben wurde, dem wird auch mehr abverlangt. Und je mehr wir zur Tiefe steigen, umso reichlicher werden wir empfangen. „Quia respexit humilitatem ancillae suae.“ (Anm.: „Weil er die Niedrigkeit seiner Magd anerkannt hat.“). Gott hat also die Niedrigkeit, Zerknirschung, und die Selbstvergessenheit der hl. Jungfrau mit Wohlgefallen, „et fecit mihi magna“, und konnte daraufhin seine Großtaten an ihr vollbringen. Diese Gesinnung sollte auch die unsrige sein. Wir müssen die Dinge nur im richtigen Blickwinkel sehen, um zu dem vom Direktorium gewünschten Geist der Demut zu gelangen.
„In frommer Andacht“: Frömmigkeit und Andacht folgen naturgemäß der Demut auf dem Fuß. Unsere Frömmigkeit wird dann nicht mehr an der Oberfläche haften, sonderbar und lächerlich wirken, sondern auf einer soliden Doktrin aufbauen (z.B. einem Koalitionsvertrag). Die religiösen Übungen werden uns ganz gesammelt und dem Willen Gottes liebevoll hingegeben finden.
„Bevor der Oblate also zu beten beginnt, sucht er in seiner Seele solche Gesinnungen zu wecken… Er opfert dem Herrn diesen Dienst auf… zum Heil aller Geschöpfe.“
Das Breviergebet rezitieren wir also nicht nur zu unserem persönlichen Gewinn, sondern zum Nutzen der ganzen Schöpfung. Nicht nur für unsere Genossenschaft, die ganze hl. Kirche und die vernunftbegabte Schöpfung, sondern sogar für die vernunftlose. Wir bitten, dass alles Geschaffene zu dem ihm von Gott gesteckten Ziele gelange. So verbindet uns das Offizium sogar mit der Wirksamkeit der Engel und lässt uns mitarbeiten an dem, was Gott selbst in der natürlichen Ordnung schafft. Darum waren früher die kirchlichen Pfründen (beneficium) an die Rezitation des Chorgebetes geknüpft und wurden im Priesterchor der Kirche verteilt. Nur die Ordensleute und Pfründeinhaber waren zum kanonischen Stundengebet verpflichtet. Das beweist die Verbindung von natürlicher und übernatürlicher Ordnung. Wir beten also nicht nur zur Ehre Gottes, sondern auch zum Heil aller Geschöpfe, all dessen, was aus Gottes Hand hervorging. Welch wichtige Rolle kommt also in der Kirche dem Offizium zu! Es weist uns in der von Gott in der Welt aufgestellten Ordnung einen offiziellen Rang, einen Ehrenplatz ein. Mit ihm treten wir in den göttlichen Schöpfungsplan ein und wirken tatkräftig mit an der Bewahrung und Erhaltung der Schöpfung. Beten wir darum unser Offizium, ob das große Brevier, das kleine Marianische Offizium oder das 29 Paternoster und Ave Maria, alle Zeit mit großer Ehrfurcht. Über die Art des Rezitierens sprechen wir ein andermal.
