Kapitel vom 30.11.1887: Einführung. Vertrag. Geistliche Gespräche.
„Beim Erwachen versenkt der Oblate seine Seele sogleich ganz in Gott.“ Wir wollen die Lehren unseres hl. Stifters ernst nehmen, besonders jene der „Philothea“. Wenigstens einmal sollten wir diese „Einführung ins religiöse Leben“ durchlesen, damit wir davon ganz erfüllt werden. Es sollte eines unserer Gebräuchebücher sein. Lesen wir nicht zu viel auf einmal, damit es auch wirklich unser geistiges Eigentum werde. Es sollte unsere „Nachfolge Christi“ sein. Ein Gesetzbuch, dessen wir uns für die Seelenführung bedienen. Nicht nur ein Geist der Philothea muss uns geläufig sein, sondern sogar die Ausdrücke. Ihr kennt die Lobpreisungen, die selbst Protestanten darüber anstimmten. Es löste bei seinem Erscheinen eine wahre Revolution in der christlichen Welt aus, eine fast vollständige Revolution in der Lehre der Kirchenväter, in Sonderheit des hl. Bernhard von Clairvaux war, eine Lehre, die man damals vergessen oder wenigstens vernachlässigt hatte. Die Jesuiten propagierten damals etwas Ähnliches, aber es fehlte ihnen die Vollständigkeit. In der Philothea begann der hl. Franz v. Sales, diese Wahrheiten zu lehren, deren Fundamente er im „Geistlichen Direktorium für die täglichen Handlungen“ legen sollte. Das muss somit unsere theologische „Summe“ sein. Lesen wir immer wieder darin! Wir brauchen dazu keine Luxusausgabe. Gebrauchen wir vielmehr eine Ausgabe im Stil der damaligen Zeit, das ist notwendig. Die anderen sind doch nur „Übersetzungen“, die umso bedauerlicher sind, als sie oft den Gedanken des hl. Stifters mit ihrer Ausdrucksweise entstellen.
Die „Abhandlung von der Gottesliebe“ (Theotimus) ist zweifellos der vollständigste und vollkommenste Traktat der Liebe, den es gibt. Die anderen Autoren, die im 15. und 16. Jahrhundert über dieses Thema geschrieben haben, sind weniger umfassend und vollendet. Hier besitzen wir ein Meisterwerk der Philosophie und Theologie. Hier findet sich die volle Wahrheit, in diesem Werk eines Kirchenlehrers. Übrigens in allem, was aus seiner Feder stammt. Es ist ärgerlich, dass unsere vielerlei Arbeiten uns nicht erlauben, uns intensiver mit diesen Meisterwerken zu befassen, wie ich es gerne möchte, denn es sind wahre Wunderwerke. Die Zitate, die Franz v. Sales in seinen Werken bringt, beweisen eine ungeheure Bildung. Er erweist sich darin nicht bloß als ein Fachmann der affektiven Theologie, sondern als ein solider Dialektiker, als der berufenste Theologe. Die ersten Mütter der Heimsuchung finden wir am Ursprung dieses Buches wieder. Sie waren an der Abfassung beteiligt, indem sie nicht nur die Texte abschrieben, sondern bisweilen sogar, wie er selber gesteht, ihre Ideen beigesteuert haben.
Die Lektüre des Theotimus mag vielleicht nicht allen liegen. Die ersten Kapitel führen ein bisschen hoch hinauf, sind aber gleichwohl mit etwas Studium und Überlegung leicht zu verstehen. Ein allgemeiner Gedanke schält sich bei der Lektüre dieses Werkes heraus: Um solch ein Werk zu schreiben, musste der Verfasser von seinem Gegenstand zutiefst durchdrungen sein. Hier stehen wir am Fundament seiner Lehre seines Apostolates und seines gesamten Lebenswerkes. Dieser Traktat verdient darum ebenfalls gelesen zu werden. Mögen auch nicht alle alles verstehen, so werden dennoch alle etwas daraus schöpfen können. Es hilft uns, unsere Seelen gut auszustatten und unser Herz für die Betrachtung zu bereichern. Darum sagt auch das Direktorium: „Um betrachten zu lernen, richtet sich der Oblate nach den Anweisungen der Philothea, des Theotimus, der ‚Geistlichen Gespräche‘ und anderer Bücher.“ Von allen Schriften des hl. Franz v. Sales aber müssen wir uns am meisten vom Direktorium beeinflussen lassen. Es sei uns wie ein Evangelium. Unser kleines Direktorium müssen wir ständig in Händen haben. Von ihm muss alles ausgehen. Was gibt es Einfacheres als das Evangelium? Und doch beinhaltet es in der Substanz sämtliche Kirchenlehrer und noch viel mehr als das. Beim Direktorium handelt es sich um etwas Ähnliches. Der Benediktinerpater Clement, Sekretär Mermillod, sagte mir: Das Direktorium bietet die geschickteste Strategie zur Vollkommenheit zu gelangen, die ich kenne.
Ich empfehle euch sehr die Philothea oder „Einführung ins fromme Leben.“ Jeder soll es haben, damit er immer darin lesen kann. Man lese auch den „Theotimus“… „Die Geistlichen Gespräche“ sind Unterhaltungen unseres hl. Stifters über verschiedene Tugenden. Sie geben nicht wörtlich seinen Stil wieder, wohl aber seine Lehre. Lesen wir auch dieses Buch, es bedeute uns das praktische Evangelium unseres Lebens und der christlichen und klösterlichen Tugenden. Es gibt noch andere Bücher, die im selben Geist geschrieben sind, und deren Lektüre uns ebenfalls nützen kann, wenn sie uns begegnen. Z.B. Fenelon, besonders, was er über die Betrachtung geschrieben hat. Wir dürfen nicht meinen, der hl. Stifter stütze sich nicht auf Autoritäten, und was er sagt, sei nicht fest untermauert, vollkommen und fein ausgefeilt… Alles klingt so einfach und natürlich und ist doch gleichzeitig voller Tiefe. Es ist so schlicht geschrieben und doch die Frucht langer Studien. Und gerade die langen Vorarbeiten haben es dem hl. Stifter ermöglicht, sich so einfach und vollendet auszudrücken. In jedem Wort stoßen wir auf eine Goldader, eine überfließende Quelle von Gedanken und Empfindungen der Frömmigkeit.
„Mehr noch folge er aber dem Zug der Gnade, der Führung des hl. Geistes, und der Anleitung, die ihm gegeben wird.“
Wir besitzen über die Betrachtung eine erschöpfende Lehre, die nichts zu wünschen übrig lässt. Wir sprechen das nächste Mal darüber. Nicht jedermann geht denselben Weg. Der Geist weht, wo er will und wann er will. Seine Aktion ist nicht dieselbe bei jeder Seele, der Zug der Gnade verschieden und selbst beim einzelnen wechselt er. Der eine verspürt einen Zug zur Abtötung, der andere zum exakten Gehorsam, der dritte betrachtet gern dieses oder jenes Glaubensgeheimnis unseres Herrn. Der eine betrachtet mehr auf eine affektive Weise, der andere neigt mehr zur hl. Eucharistie, zum hl. Herzen Jesu, oder zur hl. Jungfrau. Der Hl. Geist ist zwar nur einer, aber er ist vielgestaltig durch seine verschiedenen Gnadengaben, die er der Seele einprägt. Alle diese „Gnadenzüge“ müssen aber dem Direktorium unterworfen bleiben. Denn nur so erkennen wir, ob sie vom Geiste Gottes inspiriert sind.
Wir müssen Männer des inneren Gebetes werden: „nostra conversatio in coelis est.“ (Anm.: „Unser Lebenswandel ist im Himmel.“). Jedenfalls immer, wenn wir etwas finden, das uns innerlich anrührt, uns gut tut, dürfen wir uns dessen für unsere Betrachtung bedienen.
Bitten wir viel um den Geist Gottes: er unterweise uns in der Wissenschaft des inneren Gebetes, er lehre uns, die Betrachtung zu lieben. Das ist die Wissenschaft der Ordensleute, die Wissenschaft der Heiligen.
Macht darum gewissenhaft eure Morgen- und Abendbetrachtung. Tut dies in besonderer Weise während dieser Woche.
