Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 26.10.1887: Unsere einzige Verbindung.

„Wir haben kein anderes Band als das der Liebe. Es ist das Band der Vollkommenheit… Die Liebe Jesu Christi drängt uns!“

Zunächst das Band der Liebe, das uns mit Gott verbindet. Alles muss an erster Stelle durch Gott und mit Gott getan werden. Bekennen wir feierlich, dass wir nichts aus uns und für uns tun wollen. Tun wir nichts aus eigener Kraft, sondern erbitten wir zu allem Gottes Hilfe und vertrauen uns in allem ihm an. Das muss die Basis jedes Ordensmannes und der ganzen Kongregation sein: dem Erlöser Schritt für Schritt folgen, uns nicht vordrängen, und das in den kleinsten Einzelheiten: der Pater in seiner Klasse, der Bruder bei seinen Handarbeiten. Niemals dürfen wir uns auf uns selbst verlassen. Das soll nicht heißen, wir müssten alles verwerfen, was vom Menschen stammt. Das Direktorium will nur, dass Gott an erster Stelle handelt. Die menschlichen Arbeiten verrichten wir dann nämlich umso besser, und unsere Kräfte werden verhundertfach. Unser Herr verspricht in der Tat das Hundertfache dem, der die Güter dieser Welt verlässt aus Liebe zu ihm. Schenkt er aber nicht auch das Hundertfache dem, der inneren Güter der Freiheit und des Wollens aufgibt?

Seien wir sicher, dass alles besser und vollkommener, vollständiger und gelungener getan wird, wenn es mit Gott und durch ihn geschieht. Es sollte uns unmöglich werden, ohne Gott zu handeln. Alles, was wir außerhalb Gottes tun, fällt in sich zusammen, ob Kartenhaus oder ein herrlicher Palast. Unmöglich kann ein rein menschliches Werk Bestand haben. Das hat man noch nicht erlebt und wird es nie erleben. Möge darum jeder in seinem Amt die Hilfe Gottes erbitten, dann müht er sich nicht allein.

Alles soll des Weiteren für Gott getan werden! Suchen wir nicht unser eigenes Interesse, unsere Befriedigung oder die eines anderen. Das wäre ungenügend. Gott muss vielmehr das Ziel all unserer Anstrengungen und unserer Tugenden sein. Tun wir also alles für Gott und im Blick auf ihn. Reinigen wir bei jeder unserer Handlungen unsere Absicht. Findet sich eine Befriedigung in unserem Tun, werden wir hellhörig: Gott ist aufs Äußerste empfindlich. Dann müssen wir sofort unsere Absichten reinigen oder uns eine Buße auferlegen. Genehmigt euch und eurer Eigenliebe etwas, wenn ihr unbedingt wollt, ihr werdet es hundertfach teurer zurück bezahlen müssen. Wenn ihr euch auf diese Weise einen Genuss von zwei Pfennigen gewährt, habt ihr nachher die Pein für hundert Mark zu tragen. Zahlt lieber im Vorhinein schnell eure Pfennige.

An zweiter Stelle folgt das Band der Nächstenliebe. „Mandatum novum vobis do“, sagt unser Herr, „ut diligatis invicem sicut dilexi vos.“ (Anm.: „Ein neues Gebot gebe ich euch: liebet einander, wie ich euch geliebt.“). Lieben wir unseren Mitmenschen, nicht wie man ihn vor dem Kommen unseres Herrn liebte, auf eine vage Art und Weise, sondern wie man ihn unter dem neuen Gesetz lieben soll. Unser Herr hat die Liebe zum Nächsten auf dasselbe Niveau gehoben wie die Gottesliebe. Es handelt sich somit um gleichrangige Gebote. Jesus lehrt es. Und das ist die Ursache für die große Revolution, die das Christentum auf die Erde gebracht hat, eine neue soziale Grundlage für Zeit und Ewigkeit. Ja noch mehr: „Mandatum meum!“ (Anm.: „Mein Gebot!“), sagt er, es ist sein Gebot! Ihm liegt daran mehr als an irgendeinem anderen Gebot, mehr scheint es sogar als an der Gottesliebe. Als Gott ist sein Gebot natürlich die Gottesliebe. Als Mensch jedoch ist sein Gebot die Nächstenliebe. Der geringste Akt der Nächstenliebe hat in seinen Augen höheren Wert als was direkt für Gott getan wird. Es ist verdienstlicher und vortrefflicher. Geht dieser Lehre auf den Grund: Seht, was die hl. Kirchenväter, die Schrifterklärer lehren… Gewiss ist es heiliger, die Kommunion zu empfangen, als einem Armen einen Groschen zu geben. Ist es aber auch verdienstlicher? Nein. Denn habt ihr dem Nächsten das Almosen um des Herrn willen geschenkt, ist das Almosen gewissermaßen Gott angenehmer als eure Kommunion. Natürlich mit allen gebührenden Vorbehalten… Denn in sich betrachtet gibt es keinen erhabeneren Akt als die hl. Kommunion. Ich spreche hier vom persönlichen Verdienst. Durch die Liebe zum Nächsten treten wir tiefer ein in die Absichten des Erlöser und Herr. Wir arbeiten da an seinem Werk mit, er ist uns dafür dankbar und schuldet uns gleichsam einen Gegenwert. Was wird der allerhöchste Richter am Jüngsten Tag sagen? „Venite benedicti!“ (Anm.: „Kommt, ihr Gesegneten!“). Etwa, weil ihr kommuniziert habt? Nein, weil das nicht an erster Stelle kommt, sondern weil ihr die Bruderliebe geübt habt.

So dachte auch der hl. Franz v. Sales. Er wollte einen neuen Orden gründen, dessen Grundlage einzig auf der Nächstenliebe beruht. Nehmen wir seinen Gedanken wieder auf! Tun wir das, was die Besonderheit unseres Herrn war, was am tiefsten das Herz berührt und was die wahre Lehre der Frohbotschaft ist. Das sei unsere vorherrschende Doktrin! Betrachtet auch die Gute Mutter Maria Salesia: in ihrem ganzen Leben findet ihr kein einziges Wort oder sonst etwas, was gegen die Nächstenliebe verstieß. Sie schien noch vollkommener zu sein in ihrer Menschenliebe als in ihrer Gottesliebe. Und darum hat der Erlöser sie so ungemein geliebt.

Ich wiederhole und behaupte: die Nächstenliebe steht dem Herzen Jesu näher als die Liebe zu Gott selber. Lasst uns daran denken in unseren Betrachtungen und Gewissenserforschungen. Wer ist unser Nächster? Alle Menschen! Die kleinen Kinder sind unsere Nächsten. Möchten die Lehrer in der Schule, jene, die junge Menschen leiten, die die kleinen Brüder führen, sich Mühe geben, diese Tugend in ihren Ämtern zu bestätigen. Es sollte keine süßliche und lästige Liebe sein, sondern die wahre.

Empfangen wir den Herrn in der Absicht, den Erlöser um seine Gnade und Erleuchtung zu bitten, und handeln wir dann entsprechend dem, was wir empfangen. Es liegt mir ungemein an dem, was ich heute Morgen gesagt habe. Wir wollen das niederschreiben und unseren Patres zusenden. Das möge man dann oft nachlesen, vielleicht jeden Monat…