Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 19.10.1887: Die Vereinigung mit Gott.

Ich halte es für gut, wenn wir in diesem Schuljahr diesem Schuljahr die Erläuterung des Direktoriums wieder aufnehmen, weil dieses Büchlein die Grundlage unseres ganzen Lebens bildet. „Das Ziel ihres ganzen Lebens und all ihres Tuns sei die Vereinigung mit Gott, das Apostolat im Dienste der hl. Kirche und die Sorge für das Heil des Nächsten durch Gebet, Arbeit und gutes Beispiel…“ Ohne Zweifel ist es das Ziel der ganzen Kirche sowie aller religiöser Orden, somit auch der Zweck aller Sakramente, uns mit Gott zu vereinigen. Es ist doch anzuerkennen, dass die Lehre des hl. Franz v. Sales eine ganz besondere Wirksamkeit besitzt, um dieses Ziel zu erreichen. Zielt sie doch nicht bloß auf eine Gottvereinigung bei gewissen Gelegenheiten, durch Gebet und Leiden, sondern sie tut es auf eine innigere und vollständigere Weise. Es handelt sich hier nicht um eine gelegentliche Vereinigung, sondern um eine beständige und wesentliche, eine Vereinigung, dank der Gnade Gottes, unseres ganzen Tuns und Lebens. Diese besonders geartete Einheit mit Gott ist von keinem Ordensgründer versucht worden. Obwohl sie alle auf dasselbe Ziel zusteuern, haben sie der menschlichen Freiheit einen weiten Raum zugestanden. Nur der hl. Franz v. Sales ist auf dem Gebiet der Freiheit bis zu diesem Punkt vorgedrungen. Es erforderte wahrlich einen tiefen Glauben und ein starkes Vertrauen auf Gott, um eine so komplette und absolute Lehre vortragen zu wagen.

Er hat sie nach eigenem Geständnis nicht aus seinem eigenen Gehirn geschöpft, sondern sie wurde ihm vom Hl. Geist eingegeben. Die Kirche hat durch seine Heiligsprechung und vor allem durch seine Erhebung zum Kirchenlehrer diese Lehre nicht nur gebilligt, sondern sie sich zu Eigen gemacht. Sie ist somit tatsächlich die Lehre der hl. Kirche geworden. Sie drängt sich uns somit nicht auf als eine Sonderlehre, sondern mit der Autorität der Kirche selber. Das mag gewissen Geistern als eine Spitzfindigkeit anmuten. Es ist aber eine Realität. Es ist die Ausführung jenes Wortes der Hl. Schrift, wo unser Herr Jesus Christus seine Kirche mit einem Weinstock vergleicht: „Ich bin eins mit dem Vater“, sagt er. „Mein Vater wirkt bis zu dieser Stunde, und ich wirke ebenfalls.“ Die Vereinigung mit Gott, auf die Lehre des hl. Franz v. Sales abgezielt, ist die buchstäbliche Anwendung des Wortes unseres Herrn, die Verwirklichung des Ausdrucks des Evangeliums.

Diese innige Einheit mit Gott verleiht eine große Stärke, sich zu überwinden und seine Pflicht zu erfüllen. Hier geht es nicht bloß um eine Einheit des Denkens und Wollens, sondern um eine wirkliche und tatsächliche. Zwar keine hypostatische oder sakramentale Union, doch eine fast ebenso vollständige in dem Sinn, dass unser Sein ohne Einschränkung und Vorbehalt Gott übergeben wird.

In unseren Zeiten brauchen viele Seelen solch eine innige Vereinigung und ein in Gott versenktes Leben. Ich erhalte sehr oft Briefe, die mir das bezeugen. Die Gute Mutter sagte: „Dieser Same wurde ins Erdreich gesät, um die Welt zu erneuern.“

Betrachten wir unser Direktorium darum nicht als ein Büchlein der Frömmigkeit, aus dem wir einen guten Gedanken schöpfen. Es ist vielmehr ein heiliges Gesetzbuch, eine komplette und absolute Gesetzgebung. Das begreift man zwar mit Hilfe unserer Intelligenz, es setzt aber grundsätzlich die Gnade Gottes, die hl. Kommunion und die hl. Messe zum Verständnis voraus, wenn man es verwirklichen will.

Begreifen wir darum gut das Direktorium, vorzüglich die ersten Worte. Das Direktorium ist das mit sieben Siegeln verschlossene Buch. Der hl. Johannes weint, weil niemand würdig ist, es zu öffnen. Nur seit dem Anbeginn der Welt geopferten Lamm war es vergönnt, das verschlossene Buch zu öffnen. Durch Hinopferung und Verzicht allein lässt es sich auftun. Nur er sich wie das Lamm in Schweigen und Frieden opfert, ist würdig, es zu öffnen.

Es ist eine Tatsache, dass nur der opfernde und betende Mensch alle nötige Einsicht und Erleuchtung erhält. Nehmt die Schrifterklärer wie Bossuet und die Kirchenväter. Sie haben in die Tiefen der Hl. Schrift eingeführt. Aus ihren Worten quillt Licht, das geringste Ding gewinnt bei ihnen Breite und Tiefe und strahlt das Licht des Hl. Geistes aus. Warum? Weil sie Heilige waren.

Bittet Gott um Verständnis des Direktoriums. Bittet darum bei der hl. Kommunion und der hl. Messe. Bittet um Verständnis für dieses Leben, das in uns herrschen soll. Dann werden wir in uns neu aufleben lassen, was die Gute Mutter getan hat. Ohne Zweifel ist eine solche Einigung mit Gott nicht Sache des Menschen, aber seine Hilfe wird uns nicht fehlen, und sie wird alles verwirklichen. Wir müssen uns ihm nur ungeteilt anheimgeben und nicht so halb und halb und auf gut Glück. Gehen wir in aller Treue voran. Seht nur, was die Treue der Guten Mutter hervorgebracht hat. Ich las das Approbationsschreiben des Bischofs von Quimper, der soeben gestorben ist: „Herr Pater“, sagt er darin, „das ist alles sehr schön. Aber ist es wirklich die Gute Mutter, die das zustande gebracht hat?“ Jawohl, sie hat es fertig gebracht, oder besser gesagt: Gott hat es durch sie fertig gebracht.

Besteht diese Gottvereinigung in einem beständigen Denken an Gott? Nein, das wäre zu ermüdend und unmöglich. Es ist vielmehr ein gewohnheitsmäßiger Zustand der Seele, die Gott gehorchen und gefallen will in allem, und zu diesem Zweck das Direktorium treu praktiziert. Seid darum entschlossen, immer im Verein mit Gott zu arbeiten, mit der Hilfe seiner Gnade und in seinem göttlichen Licht. Bemüht euch bei all eurem Tun diese Verbindung mit Gott zu unterhalten. Allmählich wird es euch zur Gewohnheit werden. Das gelingt nicht beim ersten Anlauf, es braucht lange Zeit, aber versuchen müssen wir es immer. Das muss uns beständig als Ziel vorschweben. Denn nur dies macht uns zu Ordensleuten.

Wie werden denn gute Ordensleute? Was ist da für uns wesentlich und speziell? Ist es das Gebet, die Frömmigkeit? Gewiss ist die Frömmigkeit gut und nützlich, vor allem für den Ordensmann. Doch nicht das unterscheidet uns von den anderen. Die Frömmigkeit ist im Übrigen eine geistliche Salbung, die die Seele befähigt, die Dinge Gottes zu lieben und ihn zu suchen. Bleiben wir aber ohne dieses Gefühl, diesen Geschmack, ohne diese Bevorzugung Gottes, was dann? Als Ordensleute können wir aber darauf nicht verzichten, und wir vermögen es, wenn wir unseren Willen in Trockenheit und Versuchung wie im Eifer mit Gott vereinigen.

Bitten wir Gott während dieser Woche, uns den Sinn dieses kleinen Artikels unseres Direktoriums zu offenbaren, denn er allein kann das nötige Licht schenken.