Kapitel vom 13.07.1887: Die Lehre: Ein Herz und eine Seele.
Heute möchte ich das Thema wieder aufnehmen, über das ich jeden Augenblick spreche, weil es da um einen für uns äußerst wichtigen Punkt geht: Die Kongregation der Oblaten des hl. Franz v. Sales ist wie alle anderen Kongregationen: arm zweifellos an Zahl, an Tugend, an Einfluss… Gleichwohl muss sie ihren spezifischen Geist, ihre Lehre und ihr besonderes Gepräge haben. Sie muss in sich selber die Nahrung haben, die sie braucht, den Grund, der sie trägt, ihre Spezialität, ohne die sie unnütz wäre, ohne die sie nur hinderlich wäre.
Das Lehrgut der Guten Mutter muss uns in Beschlag nehmen, uns umwandeln, uns zusammenschließen in einem Maß, dass wir nur eine einzige Lehrmeinung, nur ein Herz, eine Seele, einen Willen haben. Unsere Hauptsendung, die wir die Gründergeneration bilden, besteht nicht so sehr darin, dass wir uns selber heiligen, sondern dass wir das Haus (der Genossenschaft) aufbauen, aufrichten. Wir sind das Fundament. Ins Fundament braucht man keine polierten und bearbeiteten Steine legen. Vorausgesetzt, sie sind solid, entsprechen dem Bauplan, halten sich in den Grenzen der Konstruktion, dann sind sie gutes Fundamentmaterial, selbst wenn sie rohe und unbehauene Steine sind. Hauptsache bleibt, dass wir dem Sinn der Baukonstruktion entsprechen. An diese Arbeit heißt es sich jetzt machen. Gott lässt alles zu, was derzeit geschieht, um die Mitglieder zu festigen und zu einigen. Es steht außer Zweifel, dass zurzeit eine äußerst starke Strömung besteht, unsere Konstruktion umzustürzen. Als der hl. Franz v. Sales das Kloster zu Annecy baute, lenkte ein Kapuzinerbruder einen Bach in die Fundamente. Mutter Chantal war darüber ärgerlich: „Und Sie kommen jetzt zu uns, um Almosen zu erbitten?“ sagte sie zu diesem Bruder. „Jawohl“, fügte der hl. Stifter hinzu, „und unsere Mutter wird Ihnen doppelt so viel Almosen geben.“ Man spottet viel über die Wunder der Guten Mutter bei gewissen Priesterzusammenkünften. Die Gute Mutter übt aber zurzeit einen mächtigen Einfluss aus. Mit unserem Bischof stand ich immer in Opposition. Alles, was mir zu Ohren kommt, von seinen Gefühlen und seinen Machenschaften, beweist mir, dass er aufs Äußerste gegen uns eingestellt ist. Dabei handelt es sich nicht so sehr um Geldfragen, sondern um Fragen der Lehre. Unsere Lehre ist aber durchaus einfach: alles mit Gott tun. Das will nicht besagen, dass Gott unaufhörlich Wunder wirkt. Wenn wir sagen, Gott hat dies und das getan, wollen wir doch nicht behaupten, dass Gott in jedem Augenblick wunderbar eingreift, sondern wir wollen uns nur daran gewöhnen, in allem Gott und seinen Einfluss wahrzunehmen.
Wir sind die Kinder Gottes und der Guten Mutter, böse Kinder, wenn man will… dennoch bleiben wir ihre Kinder und erblicken in allem ihren Einfluss. Wenn wir beten und Gott heilt uns von einer Krankheit, dann hat Gott uns eben geheilt. Wir behaupten nicht, hier liege ein Wunder vor, sondern wir danken demütig Gott und der Guten Mutter. Bleiben wir dagegen krank, dann hat es ebenfalls Gott zugelassen. „In ipso vivimus, movemur et sumus.“ (Anm.: „In ihm haben wir Leben, Bewegung und Sein.“). Das ist der Weg, von dem uns weder Spott noch Kampf abbringen. Lassen wir uns nur durch nichts erschüttern!
Erkennt nur, wie stark unsere Verpflichtung ist, solch eine Lebensweise zu führen und das Direktorium zu praktizieren. Und haben wir es lange genug geübt und sind wir, wie unser hl. Stifter sagt, zur Liebe des Wohlgefallens gelangt, dann müssen wir mit Gott in einer Einheit noch größerer Einfachheit und Intimität leben. Wir gelangen zu diesem Zustand nur mit Hilfe des Direktoriums, und unser Beichtvater und unsere Vorgesetzten werden uns das bestätigen. Täglich erhalte ich zahlreiche Zeugnisse von allem, was Gott durch diesen Weg uns zukommen lässt.
Wir sind keine Fanatiker, die an alle möglichen erstaunlichen und wunderbaren Dinge glauben. Wir glauben an die Vorsehung Gottes, an Gottes Einfluss auf uns, an das Evangelium: das ist unser Glaube. Mögen andere ihre Mittel und ihre Methoden haben, zu Gott zu kommen, das kann uns recht sein: „Alius sic“, sagte der hl. Paulus, „alius autem sic.“ (Anm.: „Der eine so, der andere anders.“). „Vos autem aemulamini meliora charismata.“ (Anm.: „Ihr aber eifert den höheren Charismen nach!“). Unser hl. Stifter lehrt: Das Beste ist, den Willen Gottes zu tun.
Wir tragen diese Gabe Gottes „in vasis fictilibus“ (Anm.: „in zerbrechlichen Gefäßen“), denn wir sind schwach und der kleinste Stoß kann das Gefäß zerbrechen. Tragen wir es mit einer allerhöchsten Ehrfurcht und einer übernatürlichen Achtsamkeit. Wenn die Finsternisse unsere Seele eingehüllt haben, die Sünde uns überwältigt hat, beichten wir und versetzen uns wieder in den Stand der Gnade. Verweilen wir keinen Augenblick außerhalb unseres Weges. Haben wir auch nur einen Augenblick den Fuß daneben gesetzt, kehren wir schleunigst zurück. Auf diese Weise wird der gute Gott immer mit uns sein und wird immer unsere Verteidigung übernehmen.
Wir wissen uns der Guten Mutter empfehlen sowie unserem hl. Schutzengel. Bitten wir die beiden, uns ungeteilt auf dem rechten Weg erhalten. Man kann uns sagen, was man will. Solange wir innerhalb dieser Grenzen bleiben, sind wir in Sicherheit.
Seit einigen Tagen habe ich darum viel gebetet und von der Guten Mutter und von der Schwester Genofeva beim Memento der Toten große Sicherheiten und sehr positive Garantien empfangen. Mit welcher Ehrfurcht sollten wir doch die geringsten Dinge der hl. Regel und des Direktoriums behandeln! All diese Dinge haben göttlichen Charakter. Hier gilt das Wort des Bischofs Lachat: „Wenn all dies der Wille Gottes ist, dann steht es nicht mir zu, es zu verzögern.“ Das ist katholisch! Mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz! Wie man über die Gute Mutter spottet, das ist keine Bagatelle.
Ich erinnere mich, dass Professor Chevalier, mein Theologieprofessor, mir eines Tages sagte: „Man soll nie über Belange der Frömmigkeit Scherze machen. Das bewiese, dass man die Frömmigkeit nicht ernst nimmt.“
