Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 19.01.1887: Die Achtung Nächsten gegenüber.

„Die Oblaten werden voreinander große Ehrfurcht haben.“ Erste Voraussetzung für die Ehrfurcht vor dem Nächsten ist die Ehrfurcht vor sich selbst und seiner eigenen Berufung. Der Oblate ist ein gottgeweihter Mensch. Ihm hat Gott die Gnade und Ehre einer privilegierten Berufung zuteilwerden lassen. Es ist Gegenstand seiner Vorzugsgnaden und ganz spezieller Gunsterweise. Wenn man einen Großen der Welt ehrt, weil er das Vertrauen und die Zuneigung eines Fürsten genießt und an seiner Macht teilnimmt, müssen wir den Oblaten tiefe Ehrfurcht erweisen, wie sie des Vertrauens und der Freundschaft Gottes gewürdigt werden. Das ist der Ausgangspunkt für unsere Hochschätzung. Man darf nicht von Mensch zu Mensch urteilen. Dieser rein menschliche Gesichtspunkt wäre hier fehl am Platz. Denn wenn wir von unserem Urteil von uns ausgehen, von unserem eigenen Urteil, unserem Temperament und Charakter, können zwischen uns keine Beziehungen einer echten und vollständigen Freundschaft, wie sie die hl. Regel verlangt, wachsen.

Sprechen sollen wir mit unseren Mitbrüdern, ehrerbietig und rücksichtsvoll, aber stets auf eine einfache, herzliche und liebevolle Weise. Das umso mehr, wenn es sich um Obere handelt. „Sie werden nie an ihnen vorübergehen, um zu grüßen.“ Das muss aber ohne Ziererei und Lächerlichkeit geschehen. Sonst könnte es Anlass zu merkwürdigen Auslegungen werden. Es muss etwas sein, was uns vom Herzen kommt und von einem Gedanken des Glaubens beseelt ist, schlicht und herzlich und liebevoll: Herzlichkeit im Äußeren und Liebe im Inneren. Es sollte diese Sondergnade das Unterscheidungsmerkmal und Gepräge der Mitglieder unserer Kongregation sein.

„Besondere Freundschaft sollen sie ebenso meiden wie jede Abneigung.“
Partikularfreundschaften sind der Ruin der Ordensgemeinden und Abneigungen der Untergang der Liebe.
„Den Oberen sollen sie Ehre und Hochachtung erweisen.“ Hat man dem Oberen eine Bemerkung (der Kritik) zu machen, soll man es demütig und schicklich in aller Ehrerbietung tun. Die Beziehungen der Oblaten zu einander müssen so sehr von Rücksichtnahme und Herzlichkeit geprägt sein, dass sie in nichts denen der Weltleute gleichen. Sie sollen sich nie anreden, ohne sich etwas Gutes und Herzliches zu sagen.

„Das Stillschweigen wird stets beobachtet, ausgenommen während der Erholungszeit.“ Man kann gezwungen sein, das Schweigen zu brechen, wenn man mit Fremden zusammen ist. Die Liebe und der Gehorsam können uns ebenfalls verpflichten, mit einem Bruder oder Pater zu sprechen, doch sollte man es nie aus einfacher Sprechlust brechen. Das Schweigen hat seinen großen Wert und zieht uns die Gnaden Gottes zu. Es gesellt uns den Engeln bei und lässt uns den Heiligen ähnlich werden. Man muss sich darum alle Mühe geben, es gut zu beobachten, besonders an den regulären Orten.

„Wenn es eines Dienstes wegen nötig ist, ein Wort zu sagen, wird man es leise tun, besonders in der Kirche, in der Sakristei, im Schlafsaal und im Speisesaal.“ Betreff des Speisesaals ist es etwas schwierig, diesen Punkt zu beobachten, da wir noch keine eigenen Häuser für unsere Ordensleute haben. Es soll aber so weit wie möglich im gemeinsamen Arbeitssaal, im Schlafsaal und im Speisesaal des Noviziates gehalten werden, desgleichen in der Kapelle und in der Sakristei.

„Bei der Erholung vermeide man lautes und zänkisches Reden.“
Wenn man verschiedener Meinung ist, breche man die Diskussion ab. Ihr seid nicht verpflichtet, eure Meinung durchzusetzen. Vermeidet vor allem, dass die Auseinandersetzung lebhaft wird und zu Verstößen gegen die Liebe führt!

„Beim Gehen im Hause, beim Öffnen und Schließen der Türen meide man jeden Lärm.“
Unser hl. Stifter gab in all seinen Bewegungen ein Beispiel für dieses Schweigen und diese Sammlung. Diese Empfehlung sollten wir darum ernst nehmen, nicht auf eine sonderbare und affektierte Weise, wie es ein Senator tut – ein Senator früherer Zeiten (Anm.: „Vor der französischen Revolution.“). Nicht wie ein Windbeutel mit heftigen und fahrigen Bewegungen, sondern indem wir immer den gehörigen Ernst und eine geziemende Ruhe wahren. In unseren Manieren sollte nichts auffallen. Sie seien einfach „tamquam filius hominis“ (Anm.: „wie die des Menschensohnes“), sagt der hl. Bernhard. Man soll sich ja am besten Vorbild orientieren, an dem, was Gott selbst gemacht hat.

„Scherze, Wortspiele und Unterhaltungen, die die Liebe verletzen könnten, sind zu vermeiden.“ Die Freizeit ist eines der wichtigsten Kapitel der klösterlichen Regeltreue. Dazu heißte es alles Notwendige beibringen. Zur Rekreation erscheine man in anderer Haltung als es z.B. zur Betrachtung und zur Kirche nottut. Je besser man die Erholungszeit verbringt, umso mehr entspricht man der Klosterdisziplin.

Erlaubt man sich einen Witz über einen Mitbruder und stellt fest, dass er schlecht aufgenommen wurde, dass man zu weit gegangen ist, so brechen wir ab. Messen wir unsere Worte immer am Charakter unseres Gesprächspartners. Machen wir nur solche Späße, die nicht verletzen, sondern allen Freude machen. Fühlen wir uns selber auf die Zehe getreten, so wollen wir dieses Gott aufopfern und uns nichts anmerken lassen.

„Ihrem Widerwillen und ihren Schwierigkeiten in der Übung der hl. Regel oder bezüglich der Leitung sollen sie nie Ausdruck geben.“
Das wird von allen Ordensregeln streng verboten. Über diese Dinge unterhalten wir uns nicht untereinander, sondern sagen es dem Oberen.

„Man hüte sich vor dem leisesten Angriff auf den guten Ruf der Oblaten, besonders dem Oberen.“
Jedes Reich, das in sich uneins ist, geht zugrunde. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen die Nächstenliebe und oft sogar gegen die Gerechtigkeit.

„Man versage sich jede Nörgelei und jeden Tadel über das, was in der Genossenschaft geschieht.“
Was innerhalb ihrer Gebräuche und Regeln liegt, entzieht sich unserer Kritik. Beobachten wir dies auch bezüglich der anderen Orden. Dieser Versuchung erliegt man leicht und glaubt sich dazu berechtigt. „Auch rede man nicht über Nahrung, Kleidung und Schlafstätte.“ Das wäre ein Verstoß gegen die hl. Armut. Ein Armer nimmt an und wählt nicht aus.

„Aufgeregte Fragen der Politik, Auseinandersetzungen über die verschiedenen Völker und Stämme sollen vermieden werden.“
Bisher hatten wir nicht die Gewohnheit, politische Zeitungen zu lesen, und so wollen wir es auch weiter halten. Das nähme uns nur kostbare Zeit weg. Zuerst liest man, dann debattiert man darüber, was uns noch mehr Zeit verlieren lässt. Als Gott uns erschuf, teilt er uns eine bestimmte Zeit zu, hat uns jede Stunde zugemessen. Jede verflossene Stunde ist eine weniger, unwiederbringlich verloren. Wie kostbar ist doch die Zeit! Fühlen wir uns müde, ruhen wir unseren Geist doch im Gebet aus, aber nie in Diskussionen und Sorgen politischer Art. Diese können nur müßig und oft schlecht sein. Die Menschen, über die man sich unterhält, verdienen es allzu oft nicht. Wir würden nur gegen die Liebe verstoßen, wenn wir sie so schildern, wie sie es verdienen. Die Gute Mutter pflegte zu sagen, sich nie mit dem Teufel abzugeben noch sich über ihn zu unterhalten.

Früher führte man auch lebhafte Debatten über die verschiedenen Provinzen: die Bewohner der Champagne wurden als Schafe verspottet, andere als Diebe. Man begann mit Spaß und endete mit Streit, früher häufiger als heute. Diese Verschrobenheiten wollen wir unterlassen. „Man gewöhne sich daran, in den Dingen dieser Welt einzig und allein der göttlichen Weisheit und Allmacht zu vertrauen.“

Wenn wir uns der göttlichen Vorsehung überlassen, die alles lenkt, dann warten wir ohne Furcht und in aller Ruhe, dass sie ihren Willen offenbare. Wir übergeben ihm die Sorge, die Angelegenheiten dieser Welt zu leiten.

Bitten wir die Gute Mutter, uns zu helfen, dass wir uns auf das Fest des hl. Stifters gut vorbereiten. Machen wir gute Betrachtungen. Beten wir in echtem Familiengeist einer mit dem anderen. Vornehmlich an den großen Familienfesten kommen die Mitglieder derselben Familien zusammen. Versammeln wir uns ebenfalls um die Gute Mutter und den Heiland.