Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 05.01.1887: Das Verhalten gegen Fremde.

„Die Arbeit in der Seelsorge nötigt uns, mit der Außenwelt zu verkehren…“ In unseren Beziehungen zu den Laien muss uns der Gedanke leiten, dass wir seine Stelle vertreten und in seinem Auftrag tätig werden. Es ist notwendig, dass die Welt Jesus Christus kennenlerne, und durch uns soll dies geschehen.

Als der hl. Philippus sagte: „Herr, zeige uns den Vater!“ antwortete Jesus: „Weißt du nicht, dass du den Vater siehst, wenn du mich siehst?“ Wenn die Welt also auch zu uns sagt: Zeigt uns den Vater, müssen wir eins mit ihm sein. Das soll keine fromme Redensart bleiben, sondern muss eine Wirklichkeit ausdrücken. Gewiss sind wir dessen ganz und gar unfähig aus uns selbst und unwürdig einer solchen Gunst. Nur wenn wir uns geringschätzen, dürfen wir darum bitten, und nur so werden wir seine Stelle einnehmen können.

Hier zeigen uns der hl. Franz v. Assisi und Bruder Leo den Weg: „Gehen wir predigen!“ sagt der hl. Franz zu ihm, und sie gehen durch die Straßen von Assisi. Nach der Rückkehr sagt der Bruder: „Aber wir wollten doch predigen!“ Und der Heilige darauf: „Wir haben durch unser Beispiel gepredigt, und zwar wirksamer als hätten wir es nur mit Worten getan!“ So predigen auch wir durch unsere Haltung, unsere einfache Seinsart, ganz ohne Anmaßung, indem wir wie unser Herr dahingehen. Er wurde uns in allem gleich, sagt der hl. Apostel, außer der Sünde. Bei den Kranken, im Beichtstuhl, beim hl. Messopfer müssen wir von diesem Pflichtgefühl durchdrungen sein. Bitten wir die Gute Mutter um Verständnis dafür und um die Kraft, es zu verwirklichen.

Diese hohe Absicht, wenn wir davon ganz erfüllt sind, bewahrt uns vor lächerlichem und verlegenem Aussehen. Leben wir doch von Leben unseres Herrn. Er muss uns beleben und stützen, sodass wir ihn wirklich vertreten können. Das gilt für alle Priester und Ordensleute, das gilt besonders auch für uns. Die Worte des Hl. Vaters kommen mir da oft in den Sinn! Nachdem er angehört hatte, was ich ihm von der Guten Mutter Maria Salesia erzählte, fragte er mich: „Warum haben Sie solange gezögert, um Ihren Auftrag auszuführen?“ – „Hl. Vater, es war eine Frau!“ Da stand der Hl. Vater mit Majestät auf und sprach die Worte: „Alles, was Sie in Ihren Werken getan haben, hat Gott gewollt. Und alle, die mit Ihnen zusammenarbeiten, schaffen für sich persönlich am Werke Gottes mit. Was fehlt Ihnen noch? Die Approbation der Hl. Kirche? Ich, der Papst, gebe sie Euch. Sagen Sie zu den Bischöfen, dass ich Sie schicke! … Sagen Sie zu Ihren Ordensleuten, sie müssen sich ‚usque ad effusionem sanguinis‘ (Anm.: ‚bis zum Vergießen ihres Blutes.‘) hingeben.“

So sprach der Papst. Er selbst schickt uns aus, um nach der hl. Regel zu leben, um nach der Art des hl. Franz v. Assisi und des Bruders Leo zu predigen. Er selbst sendet uns, damit wir unseren ganzen Einfluss auf unser Milieu ausüben und dort den Wohlgeruch unseres Herrn verbreiten. Hüten wir uns darum vor allem, was Ärgernis erregen könnte, was  uns schuldig macht, was dem Willen Gottes entgegensteht. Worte sind nur Worte, die im Winde verwehen. Handlungen hingegen haben viel größere Tragweite.
Gestern erteilte ich das Sakrament der Krankensalbung an Schwester Anna-Theresia, die darum gebeten hatte und die es mit großer Andacht empfing. In ihren Worten steckte etwas vom Geist der Guten Mutter, ich war davon sehr ergriffen. Gott lebte in ihr, sie bereitete wirklich den Wohlgeruch Christi um sich. Erfüllt auch ihr euch mit dem Geist der Guten Mutter, lest immer wieder ihr „Leben“ und praktiziert es.

Mögen unsere Patres sich gründlich prüfen, ob sie überall unseren Herrn hintragen. Mögen unsere Fratres sich „cum timore et tremore“ (Anm.: „mit Furcht und Zittern“) prüfen. Haben wir alle diese Empfehlungen vernachlässigt, so heißt es von neuem beginnen und mit einem festen und guten Vorsatz uns wieder an die Arbeit machen. Sich so recht und schlecht durchschlagen ist nicht erlaubt. Wir sollen kein von allen Winden gekrümmtes Schilfrohr sein. Gebt acht, ihr sollt unseren Herrn überall hintragen. Ich fordere gerade unsere Fratres auf, sich tief mit dem zu durchdringen, was ich da sage und den Novizenmeister aufmerksam anzuhören. Sie mögen die Schriften des hl. Franz v. Sales studieren und das Leben der Guten Mutter betrachten. Diese Lebensbeschreibung erfährt jeden Tag die Billigung anderer Bischöfe, sie wirkt in der Kirche wie ein Naturereignis.

Das sind doch alles keine Kleinigkeiten. Wir sind zum Tisch des Familienvaters gerufen, lassen wir unsere Plätze also nicht von anderen einnehmen. „Pater Rollin, Sie sind angeblich streng. Seien Sie bitte ruhig noch strenger!“ Jeder möge sich, wie gesagt „mit Furcht und Zittern“ prüfen. Nicht mit Misstrauen, sondern jener ehrfürchtigen Furcht, die die Vollendung der Tugend der Weisheit ist, wie unser hl. Stifter sagt. Denn diese hl. Furcht, diese kindliche Furcht, Gott zu verlieren, ist eine Gabe Gottes. Die Gute Mutter fürchtete immer, Gott zu beleidigen, sich von ihm zu entfernen, in irgendeiner Weise gegen das zu verstoßen, was sie ihm schuldete.

Unsere Schüler kommen aus den Ferien zurück. Möge darum jeder ganz seiner Pflicht leben und sich bereit machen, das Licht und den Wohlgeruch unseres Herrn in seine Umgebung auszustrahlen. Seien wir keine erloschenen Lampen bei unserem Tun, in unseren Kollegien, in unserer ganzen Art zu sein und zu handeln. Machen wir aus unseren Schülern keine Nichtsnutze, Menschen ohne Herz und Willen, in deren Geist nichts Bleibendes und Beständiges lebt. Welch ein Unterschied besteht denn schon zwischen einem Geist, in dem nichts Festes und Bleibendes lebt und einem Geist stupider Unwissenheit? Ein Geist, ausgestattet mit reichen Gaben der Natur, der durch eine gute Erziehung gelernt hat, seine Gedanken zu ordnen, hat einen festen Standpunkt, hält an seinen Idealen fest, weil sie wahr und gut sind. Bei ihm findet sich somit Festigkeit. Bittet den Herrn um die Gnade, im Gehorsam fest gegründet zu sein, damit ihr Ernsthaftes leistet. Ich möchte vornehmlich von unseren Fratres gut verstanden werden! Obwohl sie noch keine Priester sind, haben sie bereits ein Seelesorgeamt bei den Schülern zu erfüllen. Sie sollen sie für die Frömmigkeit gewinnen, indem sie sie anziehen und für Gott begeistern. Die Gute Mutter sagte von den Oblaten, man werde in ihnen unseren Herrn auf Erden dahingehen sehen. Das ist eine bemerkenswerte Ausdrucksweise. Sie sagte nicht, man werde den Herrn in ihnen sprechen, handeln sehen, sondern ganz einfach dahin gehen, was etwas ganz und gar Gewöhnliches ausdrückt. Wir sollen nämlich unseren Herrn bis ins Allergewöhnlichste hinein darstellen.

Ich sage es noch einmal: Seid ernst, betrachtet eure Berufung als etwas ungemein Wichtiges!

Im Großen Seminar habe ich eine Beobachtung gemacht, die mich nie getäuscht hat: Unter den Seminaristen wurden jene, die den Sinn der priesterlichen Weihe nicht verstanden, sondern sie auf die leichte Schulter nahmen, später keine guten Priester. Sie blieben mittelmäßig, wurden Spieler, Trinker, also eher widerliche Typen. Die anderen hingegen, die ein feines Gespür für die Weihegnade besaßen, die sich gründlich darauf vorbereitet hatten, und die ganz ergriffen vom Weihealtar zurückkehrten, waren später sehr gute Priester. Die also ihre Weihe mit Ehrfurcht, mit hl. Bangen empfingen und ihr eine allerhöchste Bedeutung beimaßen, einen souveränen Wert, haben viel Gutes im Leben gewirkt. Betet darum, dass ihr eurer Berufung treu bleib und schätzt ihre Größe. Stellt etwas Ganzes dar, erhebt euch über den Kreis derer, die euch umgeben, taucht auf bis zur Oberfläche! Mischt euch nicht in alles, was um euch geschieht, ein, sonst reißt euch der Strom mit fort.

Dankt Gott für die Gnade eures Berufes und beweist ihm diese Dankbarkeit durch eure Treue. Dieses Fundament der Treue finde sich in all euren Arbeiten und Worten und der ganzen Art zu leben. Der hl. Stifter stellt Wetten auf… Nun, ich wette, dass man nirgendwo einen Beruf finden kann, der uns so innig mit Gott und unserem Herrn vereinigt wie der unsere. Ich verachte deshalb keinen Orden. Sie alle sind großartiger als wir und leisten der Kirche größere und zahlreichere Dienste. Doch bietet keiner von ihnen sicherere Mittel, zu Gott zu gelangen und sich mit unserem Herrn zu vereinigen.

Der Pater Novizenmeister von Unserer Lieben Frau zu Einsiedeln sagte mir im Zusammenhang mit dem hl. Franz v. Sales: „Nach seinem Erscheinen in der Welt ist der Höhepunkt erreicht! …“ Das ist wahr. Denn seine Ehre, in die Praxis überführt, schenkt uns Jesus Christus, und zwar in seiner ganzen Intimität. Wir besitzen ihn ganz und ungeteilt, und die Gnaden, die solche einer Berufung gewährt werden, können nicht gezählt werden. Seien wir darum unendlich dankbar und treu und lassen wir unsere Vorsätze von unserem Herrn, dem Kind in der Weihnachtskrippe segnen.