Kapitel vom 06.10.1886: Zum ersten Jahresgedächtnis der Guten Mutter.
Ich bitte alle um ihr Gebet für die Seelenruhe der Guten Mutter, denn heute ist ihr Jahresgedächtnis. Wenn wir die hl. Messe lesen und die hl. Kommunion empfangen, wollen wir auch für sie beten und sie besonders jetzt am Anfang des neuen Schuljahres anrufen, dass alles gut gehe.
Ich empfehle euch einen großen Gehorsam gegen alles, was ich euch sage, desgleichen zu allem, was die Patres Rolland, Rollin, der Ökonom, und P. Gilbert euch sagen. Wenn wir alles tun, was wir tun sollen, herrscht eine heilige Ordnung, und Gott ist mit uns.
Jeder soll seinen eigenen Geschmack, sein Urteil und seine Neigungen unterwerfen. Ich habe bereits erklärt, was unter Unterwerfung des Urteils zu verstehen ist. Erfüllen wir unser Gelübde des Gehorsams, indem wir unserem Eigenurteil entgegen handeln. Das ist im Wesentlichen die Erfüllung des Gelübdes. Das vollkommene Ideal wäre mehr, nämlich auch die Tugend des Gehorsams zu erfüllen, indem man nicht nur dem Urteil entgegen gehorcht, sondern indem man sogar das „Innere“ unseres Urteils überwindet. Hier spricht man zu sich: „Ich verstehe davon nichts, meine Oberen verstehen und denken besser als ich…“ Dieses vollkommene Unterwerfen des Urteils ist für das Gelübde an sich nicht erforderlich.
Handeln wir einfach, offen und herzlich im Zusammenleben mit denen, die mit uns und um uns sind. Sie sollen Gott in uns finden können, etwas von seiner Güte und seiner Geistessalbung erfahren. Sollen wir doch unseren Herrn auf Erden zur Darstellung bringen.
Damit wir die Praxis dieser beiden großen Pflichten erleichtern: nämlich des Gehorsams und der brüderlichen Liebe, und so dieses Schuljahr gut beginnen, wollen wir unsere Betrachtungen darüber machen. So wappnen wir uns gegen die Versuchungen, zum eigenen Urteil zurückzukehren, und die Gnade Gottes wird uns nicht fehlen in dem Augenblick, wo die Versuchungen über uns herfallen.
Habt großen Eifer in euren verschiedenen Ämtern. Franz v. Sales wünscht, dass wir unsere Amtspflichten leidenschaftlich gut verrichten. Machen wir uns mit unserem Herzen daran. Manschen ohne Herz oder nur mit halbem Herzen: wofür sind die schon gut, fragt unser hl. Stifter.
Rufet zu unserem Herrn in eurer Betrachtung! Betrachtung ihn am Ölberg, mit Dornen gekrönt, und bittet ihn, er möge unseren Willen seinem Vater übergeben, wie er es mit seinem eigenen Willen getan hat. Helft euch selber mit Hilfe eurer Betrachtung und, wenn nötig, mit der Besuchung des Allerheiligsten. Begreift diese Dinge gut: es sind die Elemente einer jeden Theologie. Die Dinge sind nur das wert, was sie uns kosten. Gott kann gewiss etwas Freude und eine kleine Befriedigung hineinlegen. Das ist gut, doch entscheidend ist unser Leiden und Aushalten. Damit wirkt man etwas. Beobachtet den Maurer, den Steinmetz, der einen Dom baut. Seine Maschine knirscht lauter als gebrauchte er Strohballen beim Kirchbau, aber der Dom hält dafür auch länger.
Sagen wir der Guten Meinung „Ja“ zur Mühe und zum Leid, die uns bei der kommenden Handlung erwarten. Das sei die Grundlage unserer Lehre, unserer Doktrin: Was habe ich an Leid in dieser Handlung zu erwarten? Ich nehme es an! Wir sollen die Ecken und Kanten nicht abfeilen, sondern sie annehmen. Dann ist Gott mit uns.
Jedermann kennt in seinem Beruf Mühen, Arbeiten und Leiden, etwas, was ihm Schwierigkeiten bereitet. Kämpft darum nicht gegen den Strom des Flusses an, ihr würdet sonst eure Anstrengungen unfruchtbar machen und eure Kräfte vergeuden. Sagt „Ja“ zu euren Peinen, zumal ihr keine körperlichen Bußwerke zu vollbringen habt und unsere Ordensregel keine Bitterkeiten und Strengheiten auferlegt. Lasst darum Gott etwas bitteres Salz auf euren Weg streuen und nehmt es an, so wie das Direktorium wünscht.
Begreift wohl: Jedermann hat nicht nur allgemeine Schwierigkeiten, die allen eigen sind, zu gewärtigen, wie z.B. seinen Unterricht vorbereiten, sich müde arbeiten, etc. sondern dazu noch zusätzlich nur ihm eigene, persönliche: diesen oder jenen Schüler, Hitze und Kälte ertragen, alles was uns belästigt, was gegen unsere Natur ist. Es ist nicht möglich, dass ein Opfer, das ein Ordensmann bringt, nicht überfließende Gnaden in dem, der leidet in denen, für die er leidet, hervorbringt.
Lieben wir die Seelen, aber auf eine übernatürliche Weise! Es wäre von Übel, würden wir es auf eine natürliche Weise tun. Sinnliche Anhänglichkeiten heißt es mit aller Sorgfalt meiden: „Nec nominetur in nobis.“ (Anm.: „Das sollte unter euch nicht einmal genannt werden.“9.
Leiden ist ein ungemein kostbares Mittel, uns wie die anderen zu heiligen. Die Gute Mutter sagte, im Leiden müssen wir uns als entschlossene Männer erweisen. Sagt nicht auch unser Herr: „Et violenti rapiunt illud.“ (Anm.: „Nur die Gewalttätigen reißen es an sich.“). Gewalt antun müssen wir unserem eigenen Geschmack und unseren Neigungen. In diesen Gedanken und Gesinnungen heißt es beharren.
Ich darf wiederholen: Zuerst und an der Spitze steht der Gehorsam! Zur Vollkommenheit der Tugend des Gehorsams sind wir nicht verpflichtet. Um die hl. Regel zu erfüllen, genügt es, unser Urteil zu unterwerfen. Erscheint uns ein Befehl absurd, umso besser. Gehorchen wir so der hl. Regel, dem Oberen, dem Internatsleiter, dem Novizenmeister, dem Schuldirektor, allen, die mit einer irgendwie gearteten Autorität ausgestattet sind!
An zweiter Stelle folgt die Nächstenliebe. Seien wir entgegenkommend zueinander. Man muss spüren, dass unser Herr in unserer Mitte lebt. Daran erkennt er euch als seine Jünger, wenn ihr Liebe habt zueinander.
Jeder betrachte sein Amt als etwas Wichtiges, das er gut beherrschen soll. Geht etwas gegen seinen Geschmack, dann helfe er sich mit der Hilfe von oben. Bleiben wir ruhig und zufrieden. Gott wird unser Werk tun! Ist unsere Arbeit besonders hart, dann wird unser Werk auch umso solider sein und lange währen.
Der Diamant ist härter als der Gips: daher auch der große Unterschied im Wert. Beten wir zur Guten Mutter. Sie ist im Himmel, das hoffen wir sehr. Beten wir trotzdem für sie, bis die hl. Kirche es definitiv bestätigt hat.
