Kapitel vom 13.10.1886: Liebe zur Gemeinschaft.
Ich möchte mich mit euch über ein wichtiges und entscheidendes Thema unterhalten: über die Liebe, mit der jeder Ordensmann seine eigene Klostergemeinde umfangen soll. Unser hl. Stifter sagt, man solle alle Orden hochschätzen, den eigenen aber allen anderen vorziehen, wie ein Kind die eigene Mutter einer Königin vorzieht, obwohl diese mit Juwelen bedeckt und mit Brillanten geschmückt ist. Wir werden auf jeden Fall unsere eigene Klostergemeinde ihren Geist und ihre Art zu handeln lieben. Das beruht nicht auf einem gegenseitigen Abkommen oder auf einem Gesetz der Natur. Der hl. Stifter sagt es formell: er habe von Gott die Inspiration empfangen, diesen Geist aufzurichten. Er habe dies nicht aus seinem eigenen Hirn geschöpft, sondern vom Hl. Geist. Darum lieben wir sogar die Gebräuche und Gewohnheiten unserer Gemeinschaft. Das ist unser Eigenstes, unser Familiengut, und das sollen wir deshalb lieben.
Hegen wir auch zueinander Zuneigung, ein Familienband möge alle Herzen umschlingen, alle Willen zusammenschließen. Aus vielen machen wir ein Bündel: „funiculus triplex.“ (Anm.: „ein dreifaches Seil.“). Wir lieben auch die Mitglieder unserer Gemeinschaft, unseren Vater (P. Brisson!), unsere Patres, unsere Brüder, unsere Novizen, unsere jungen Menschen, die sich entfernt bereits vorbereiten, einmal zu uns zu gehören. Und legt euer Herz in eure täglichen Beziehungen hinein. Gott ist die Liebe, und das stärkste Auflösungsmittel des Gottesreiches in den Seelen ist die Abneigung, der Hass. „Wo zwei oder drei über etwas einig sind, werden sie es erhalten.“ Beachtet wohl: unser Herr sagt nicht: wo zwei Gute sich einig sind, sondern „quicumque“ und „de quacumque re“, wo zwei beliebige sich über etwas einig sind, werden sie es erhalten.
Wir haben alle unsere Erbärmlichkeiten, Besonderheiten und Wunderlichkeiten. Jedermann ist ein Original und das größte Original ist der, der die meisten Hilfsquellen auf gewissen Gebieten erschließt. Da ist es wie mit einer Tischdecke. Zieht man sie nach der einen Seite, wird die andere entblößt. Wir sollen uns auf den anderen einlassen, bis eine feste Gewohnheit der Liebe gewachsen ist. Ich bestehe darauf. Alle religiösen Orden bzw. ihre Mitglieder lieben sich gegenseitig, weil sie etwas haben, was sie untereinander verbindet: die einen die Wissenschaft, der Seeleneifer, die anderen die Sorge um materiellen Fortschritt etc. So hat jede Gemeinschaft ihr Band der Liebe. Ich machte einmal eine Reise mit einem jungen Jesuiten, unserem Nachbarn in der Vorstadt Croncels. Er war 30 Jahre alt und sprach nur über sein Noviziat und den hl. Ignatius, dessen Bild er mir zeichnete. Das war mehr als Liebe, das war Begeisterung, und zwar eine ungewöhnliche Begeisterung. Wir beabsichtigen nicht, so weit zu gehen, wollen nicht auf unsere Phantasie einwirken, sie „anheizen“, wie man sagt. Wir wirken lieber auf etwas Solides und Festes, auf unseren Willen ein. Das ist der einzige Punkt, auf den wir uns stützen. Wenn die anderen den Ruhm ihres Ordens, seinen Einfluss und seine Helden ins Auge fassen und alle diese Überlegungen benutzen, um ihre Seelen in Stimmung zu bringen, wie man einem Soldaten Schnaps gibt vor dem Kampf, so bewundern wir dasselbe wie sie, heizen aber nicht unsere Phantasie an noch kurbeln wir die Stimmung niemandes hoch. Denn da geht es ja nur um Stimmungen. Unser großer Schatz und Kapital sei nicht die Begeisterung, sondern die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Regel des hl. Augustinus sagt: „Zuerst werde Gott geliebt, dann der Nächste.“ Außerhalb der Liebe gilt nichts. Wir müssen die Personen und Sachen der Kommunität lieben, ihren Geist, ihre Hilfsquellen, ihre materiellen Güter pfleglich behandeln und fördern. Jeder Pater und Bruder lasse es sich angelegen sein, zu sparen und etwas für die Kommunität zu gewinnen. Herr Chevalier war Oberer der Providence. Er erzählte mir, die dortige Küchenschwester habe ihre kleinen Tricks: etwas weniger Butter im Suppentopf erübrigt mehr Geld für die Gemeinschaft. Die dortigen Schwestern sind recht gut geblieben, und Herr Chevalier hatte Tränen in den Augen, als er das erzählte.
Was kann ich tun, um meine Ansprüche und Ausgaben einzuschränken? Diese Frage sollten wir uns gern stellen. Das ist keine Frage des Vorteils, sondern des Herzens. Einer der Gründe, die uns zur Sparsamkeit veranlassen können, sollte sein, den Geist der Guten Mutter zu erwerben. Sie gebrauchte die Gaben Gottes, alles Materielle, alles Geschaffene, um Gott damit Ehre zu erweisen. So wie man den Hl. Geist ehrt durch die Treue zur Gnade. Gottessohn, indem man tut, was er sagt, indem man ihn liebt, und seine Sakramente empfängt. Den Vater betrifft das Gebiet der Schöpfung, der materiellen Dinge. Auf diese Weise macht man, sagt die Gute Mutter, das Kreuzzeichen sinnvoll: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Hl. Geistes.“ Das zeugte bei ihr von einem gesunden Urteil und großem Ernst. Alles, was sie anpackte, was sie berührte, alles, was sie gebrauchte, war für sie ein Gut und Eigentum Gottes. Machen wir es ebenso, gebrauchen wir die Güter Gottes im Maße des Gehorsams und des Willens Gottes. Weit entfernt, knauserig zu sein, wollen wir vielmehr großmütig und doch sorgfältig mit den Gütern und Interessen der Kommunität umgehen. Geben wir nur aus, was unbedingt notwendig ist. Zur Zeit der Guten Mutter spürte man Gott in der Heimsuchung von Troyes, die Steine sprachen von ihm. Mit dieser Gesinnung schaffen wir Großes, jeder in seinem Kreis, und dieses Große wird die Frucht der wirklichen und ungeteilten Liebe und Anhänglichkeit an die Klostergemeinde sein.
Bitten wir die Gute Mutter um Verständnis hierfür. Wir haben einen Leib und eine Seele, beide haben Pflichten zu erfüllen, der Leib in seinen natürlichen, materiellen Beziehungen, die Seele auf ihrem übernatürlichen Gebiet. Beide Ordnungen, wenn innerhalb der gottgewollten Bedingungen bleiben, werden von Gott geliebt.
Diese Lehre scheint einfach und einfältig, ist in Wirklichkeit aber äußerst tief. Grabt sie euch tief ins Herz und betrachtet darüber. Das wird für euch zu einer Quelle großer Erleuchtungen werden. Darin liegt unser Schatz, unser Geist, das Sein unserer Kongregation beschlossen. Möge die Guter Mutter von der Höhe des Himmels aus uns segnen und das Verständnis dieser Dinge erbitten.
Ich empfehle euren Gebeten das Anliegen der Erscheinung der Lebensbeschreibung der Guten Mutter (Anm.: „Verfasser war P. Brisson selbst.“). Das wird Anlass zu mancherlei Beanstandungen geben. Alle, die die Gute Mutter gekannt haben, haben sie jeder unter seinem Gesichtspunkt geschätzt. Darum die Fragen: Warum haben Sie nicht dies oder das erwähnt? Warum keine didaktische Darlegung ihrer Lehre? Andere finden bei der Guten Mutter diese oder jene Andacht, die sie selber gern haben, nicht. Die Theologen sagen vielleicht, sie sei keine Tochter des hl. Franz v. Sales, weil sie behauptet, die Erbsünde habe den Verstand mehr verletzt als den Willen, während Franz v. Sales das Gegenteil lehrt. Die Gute Mutter war aber durchaus frei, ihre eigene Meinung zu haben! Wenn man euch so eine Frage stellt, antwortet einfach, ich wollte keine Abhandlung schreiben. Statt schöne Überlegungen anzustellen, wollte ich einfach die Folgerungen für das praktische Leben ziehen. Sie hat sich geheiligt. Bemüht euch, dasselbe zu tun!
Man wird mich anklagen, ich spreche von Politik, aber unser Hl. Vater tut es doch auch.
Diese Biographie wird uns noch einige Stöße versetzen, darauf müssen wir gefasst sein. Die Gute Mutter pflegte, wie der Hl. Vater, die großen und alten Andachten, den Rosenkranz, das Weihwasser. Sie gab sich weniger mit den neuen Andachten ab. Wer diese liebt, wird natürlich mit ihr unzufrieden sein. Stellt keine Überlegungen an, wenn man euch von all dem spricht. Diskutiert nicht, behandelt diese Dinge mit Sanftmut, dann wird alles mit der Gnade Gottes ein gutes Ende nehmen.
