Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 14.07.1886: Die Betrachtung.

„Aufstehen, Morgengebet und Betrachtung dauern zusammen eine Stunde“, bestimmen die Satzungen. Ich habe euch bereits gesagt, wir machen unsere Betrachtung mit dem Direktorium zusammen, gestalten sie affektiv und effektiv, und sprechen mit Gott in Liebe und mit dem Herzen. So können wir z.B. an einem Tag das Aufstehen, ein andermal das Stillschweigen zum Betrachtungspunkt wählen, usw. Auf diese Weise übt ihr euch ins Direktorium ein. Die Heiligkeit birgt sich für uns nämlich im Direktorium. In der Familie des hl. Franz v. Sales kann kein anderes Mittel Erfolg erzielen. Jedes Mal, wenn ihr das Direktorium ernst nehmt, bewegt ihr euch in der geraden Linie eurer Berufung. Der Morgen ist die geeignetste Zeit dafür. Jeder Kaufmann bereitet am Morgen das Gros seiner Geschäfte vor, sonst wird es ein Kuddelmuddel und geht dem Ruin entgegen. Wir stehen z.B. vor einem Fest oder einem besonderen Ereignis, das uns stark beeindruckt: lassen wir uns doch von diesem Ereignis beeinflussen: „Nolite extinguere Spiritum.“ (Anm.: „Löscht den Geist nicht aus!“). Dauert dieser Anreiz noch bis zum folgenden Tag, so bleibt dabei, ja bleibt ein Jahr dabei, wenn die Betrachtung darüber euch ein Jahr lang etwas abgibt. Wenn ihr nicht betrachten könnt, was ja oft der Fall ist, weil eure Seele wie ausgetrocknet ist, dann haltet einfach vor Gott Wache wie ein Posten und sprecht: „Herr, ich bete dich an. Der Zwang, den ich mir auferlege, möge dich ehren. Er sei mein ‚sacrificium matutinum‘“ (Anm.: „sei mein Morgenopfer.“). Ist dieser böse Augenblick vorbei, so nehmt wieder euer Direktorium zur Hand und folgt ihm Punkt für Punkt. So werdet ihr es schließlich „besitzen“ und praktizieren.

Ich komme gern auf dieselben Dinge zurück, weil man so wenig weiß, was betrachten heißt. In den Priesterseminarien und Pfarrhäusern bedient man sich dazu eines Betrachtungsbuches. Vier oder fünf fromme Christen von hundert machen ihre Betrachtung auf dieselbe Weise. Die hl. Theresia sagt, sie schöpfen das Wasser am Brunnenrand, während zu ihren Füßen Wasserbäche in Überfluss fließen. Der hl. Bernhard nennt es Wasser, das den Wunden des Erlösers entströmt. Alles andere ist ein Irrtum, dem man zwar nicht öffentlich widersprechen und nicht dagegen predigen sollte. Diese unsere Methode sollen wir mit Sanftmut lehren. Betrachtung, das ist das Direktorium, ist die hl. Messe, die Beichte, die Kommunion, alles, was unser Tagewerk füllt. Betrachten heißt nach der Lehre der Guten Mutter sich mit Gott über seine Angelegenheiten unterhalten, heißt ihn über alles ins Bild setzen. Mit Gott geben wir uns wie mit unserem Chef, unserem Hauptmann (capitaine) ab. Ihn fragen wir nach seinem Willen und seiner Leitung. Wann sollen wir dies aber tun wenn nicht während der Betrachtung?

So betrachten kann aber jedermann. Da erkennt man, was für einen das Beste ist und man überlegt es mit unsrem Herrn zusammen. Auf diese Weise bringt man wieder in Ordnung, was die Sünde zerstört, was die (französische) Revolution vernichtet haben: durch die Vereinigung der Seele mit Gott. Das tun wir nicht durch Nachdenken im intellektuellen Teil unserer Seele, sondern mit unserem Herzen. Die Seelenführer mögen auf diese Weise mit ihren Philotheen betrachten. Der hl. Franz Xaver und der hl. Vinzenz von Paul nahmen kein Buch zu Hilfe, um Überlegungen und Meditationen anzustellen.

Das heißt es tief verstehen, und zuerst selber üben, um es dann die anderen tun zu lassen. Um Einfluss auf die Seelen zu gewinnen, dass sie ebenso verfahren, müssen wir es selber gut gelernt haben.

Man hält schöne Predigten über das innere Gebet, die Betrachtung: „Desolatione desolata est omnis terra, quia nullus est, qui regogitet corde.“ (Anm.: „Die ganze Erde ist in einem Zustand trostloser Verlassenheit, weil es niemanden mehr gibt, der in seinem Herzen betrachtet.“). All diese schönen Predigten bringen uns aber nicht viel weiter. Wie sollen wir denn betrachten? Nehmt ein Buch zur Hand. Aber welches denn? Welches gibt mir die Gedanken und Dinge ein, die gerade mir nottun? Unser hl. Stifter hat selber der Tagesmode einen kleinen Tribut gezollt, indem er Betrachtungsmethoden nennt. Er fügt aber gleich hinzu: sobald man sich von Gott ergriffen fühlt, solle man auf sämtliche Methoden verzichten und dem Zug der Gnade und des Herzens folgen. Ihr gebt Unterricht: sprecht doch zu Gott über eure Klasse während eurer Betrachtung. Aber das ist doch eine Zerstreuung, das lenkt mich ab. Mir bedeuten solche Zerstreuungen nicht mehr als irgendwelche andere. Sobald man die Zerstreuung merkt, führt man alles zu Gott zurück. Das ist nicht gefährlich und mindert nicht den Wert eurer Betrachtung. Das heißt es begreifen: Oblatengeist ist es, Gott mit uns zu haben: „Nobiscum Deus, Emmanuel.“ (Anm.: „Gott mit uns, Emmanuel.“). Das gilt ebenfalls für unsere Arbeit: beten wir unseren Herrn an, der Handarbeit leistet. Der auch mit uns schafft und unsere Arbeit heiligt. Das wird eine sehr nützliche Betrachtung sein, da wir den ganzen Tag über arbeiten und so das Tagewerk heiligen. Wie diese Lehre doch einfach und wahr ist. Sie entstammt der Ewigkeit. Wie hielten denn im irdischen Paradies Adam und Eva Betrachtung? Gott kam zu ihnen „ad horam post meridiem“ (Anm.: „zur Stunde nach dem Mittag“) und unterhielt sich mit ihnen: so ist auch unsere Betrachtung!

Wir wollen für gewöhnlich über unsere Pflichten betrachten, was uns aber nicht daran hindert, an einem Festtag, bei einem Ereignis, oder einem Jahresgedächtnis über diesen Anlass zu betrachten, oder aber auch über eine spezielle Gnade, die uns zuteilwurde. Wenn wir treu sind, wird es uns an Betrachtungsstoff nie fehlen!

Das Gebet ist eine „Erhebung unserer Seele zu Gott“. Das innere Gebet ist eine „Unterhaltung und ein Zwiegespräch der Seele mit Gott.“ Ich bestehe auf dieser ausgezeichneten Methode, ein Einwand gegen sie ist nicht möglich.  Der höchste Einwand wäre dieser: Gott spricht nicht mehr mit mir, er sagt mir nichts. Darüber klagen viele. Nun, dann halten wir einfach Wache: solch ein Schweigen, Sammlung, Verzicht sind außerordentlich wertvoll und verschaffen uns große Verdienste. Wenn ich soeben die großartigen Betrachtungsmethoden mit ihren Gewaltanstrengungen angriff, wollte ich damit keineswegs behaupten, sie seien ohne Verdienst. Gott belohnt die Mühe und Arbeit. Aber es ist schwer, und wir, die wir nur arme Schlucker sind, begnügen uns mit einer leichteren Art zu betrachten.

Lehrt das auch eure Schüler, lasst sie sich mit Gott während zwei oder drei Minuten unterhalten, allmählich verlängert ihr dann diese Zeit. Beten sie immer nur ihre mündlichen Gebete oder nehmen sie ein Buch zur Betrachtung, so werden sie sich bald langweilen und alles aufgeben.

Empfehlen wir uns der Guten Mutter Maria Salesia, dass sie uns die rechte Betrachtungsweise lehre!