Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 07.07.1886: Die Betrachtung. Die Stundeneinteilung. Das Direktorium.

Der Artikel XV. der (früheren) Satzungen spricht von der Stundeneinteilung, d.h. vom Aufstehen, Gebet, Arbeit, Freizeit, Schlafen, was also zeitlich genau festgelegt ist. Die Oblaten sollen sich an diese Tagesordnung halten, auch wenn sie in der Mission (auch: Volksmission) sind, falls sie frei verfügen können. Wenn nicht, sollen sie der Zeiteinteilung möglichst nahekommen. Was unsere persönlichen und inneren Frömmigkeitsübungen betrifft, die vom Direktorium empfohlen werden, sollen wir sie nie und nirgendwo unterlassen. Ich will damit nicht behaupten, man müsse beständig die Gedanken des Direktoriums präsent im Geist haben, aber zu Beginn jeder Übung sollen wir sie nie vergessen. Durch die „Gute Meinung“ sollen sie Gott aufgeopfert werden, das muss uns zur zweiten Natur werden, so dass man es kaum noch bemerkt. Das ist keine Arbeit, sondern eine wirkliche Hilfe. Wir brauchen nicht zu fürchten, diese inneren Übungen würden, weil wir sie ständig wiederholen, langweilig und lästig. Im Gegenteil, je mehr wir sie wiederholen, umso mehr Gefallen finden wir daran, und am Direktorium gewinnen wir wie die Israeliten am Manna immer neuen Geschmack. Ohne Erlaubnis des Generaloberen sollte man die Stundeneinteilung in den einzelnen Häusern nicht ändern.

Beobachten wir das Direktorium, das der hl. Stifter selber geübt hat, bevor es der Heimsuchung gab. Das ist ganz besonders geartetes Mittel, zu Gott zu gehen, und von allen bekannten ist es das, was die vollständigsten Resultate liefert. Bei jeder Handlung erwartet man alles von Gott, hängt man in allem von ihm ab.

Aber alles zur Ehre Gottes verrichten, gilt das nicht mehr? Die Ehre Gottes ist Los und Erbe des Himmels, dort ist sie beheimatet. Auf der Erde wohnt vielmehr der Friede, pax, die Sonderfrucht der Menschwerdung auf Erden. Die Ehre Gottes passt besser in den Himmel, zur Gottheit. Der Mensch kann nichts Wesentliches an Wert seiner Handlung zufügen, dass sie die Ehre Gottes schaffe, kann nicht das Werkzeug dafür sein, das ist ihm unmöglich. Dafür ist er zu klein. Die Frucht seines Kommens auf dieser Erde ist, dass unser Wollen sich mit dem Seinigen vereinige und uns so den Frieden bringe: „Pax hominibus bonae voluntatis.“(Anm.:  „Friede den Menschen guten Willens, des göttlichen Wohlgefallens.“)

Alle anderen Mittel wie die körperlichen Abtötungen, z.B. führen uns zwar zur Heiligkeit, doch bedarf es dafür einer besonderen Berufung und enormer körperlichen Kräfte.

„Menschen guten Willens“, das ist das große Mittel, das wahre Mittel, das evangelische Mittel. Wie es finden? Indem wir das Direktorium üben, wie Franz v. Sales es praktiziert hat. Wenn wir das Direktorium befolgen, sind wir in hervorragender Weise Männer guten Willens, da man ja auf seinen Eigenwillen verzichtet, um den Willen Gottes zu tun.

Beobachten wir darum genau das Direktorium. Bringen wir dem Willen Gottes über uns tiefste Ehrfurcht entgegen. Beobachten wir es mit Genauigkeit. Betrachtet die Genauigkeit des Erlösers: Bei der Hochzeit zu Kana weigert er sich, das von seiner Jungfrau erbetene Wunder zu wirken, weil „seine Stunde noch nicht gekommen“ sei. Als diese Stunde aber eintrat, geht er sogar seinen Henkern entgegen: „Venit hora, ut filius hominis tradetur.“ (Anm.: „Die Stunde ist da, wo der Menschensohn ausgeliefert wird.“)! Die Exaktheit, die Genauigkeit ehrt den göttlichen Willen am meisten. Üben wir darum unser Direktorium mit Liebe. Genauigkeit ist ein Zeichen von Lieb. Wer liebt mehr, fragt unser Herr? Wer „Ja“ sagt, es aber doch nicht tut, oder der andere, der „Nein“ sagt, und es dann doch tut? Wer also gehorcht! Wir haben festgestellt, dass Franz v. Sales erst selber das Direktorium geübt hat, bevor er es der Heimsuchung übergab. So steht die ganze Heimsuchung tief verankert in diesem Büchlein, so dass, als die Mutter Chantal bei der ersten Gelübdeablegung ihren seligen Vater fragen ließ, ob er in ihrer Lebensweise etwas abändern wolle, dieser antwortete: „Nein“. Das Direktorium war nämlich das Richtige nach der Einführung der Klausur, wie vor derselben, es war alles.

Das Direktorium scheint übertrieben und kleinlich zu sein, ist es aber nicht. Es ist zehnmal leichter, einen guten Oblaten heranzubilden als eine gute Oblatin. Das Direktorium ist keine Sache für Frauen, sondern eine Männersache, und so ein innerliches Leben wird viel leichter von Männern gelebt und auch vollständiger als von Frauen. Weit entfernt, der Seele die Kraft zu nehmen, stärkt dieselbe gegen alle Angriffe. Welche Kämpfe hatte doch der hl. Stifter im Chablais zu bestehen, ebenso später! In Annecy steht ein verschlossener Schließkoffer, in den niemand Einblick bekommt und in dem alle Angriffe und Verleumdungen gesammelt sind.

Das Direktorium ist eine kräftige Nahrung und sehr gehaltvoll. Um es zu verdauen, braucht man einen soliden und widerstandsfähigen Magen. Es bedarf der Stärke und Spannkraft, was nicht jedermanns Sache ist. Hat man es aber lange und gründlich praktiziert, so tut man alles mit der gleichen Leichtigkeit, die einfachsten wie schwierigsten Handlungen. Der Beweggrund bleibt derselbe: Gott will es.

Wie soll man nun betrachten? Am Anfang nehme man sein Direktorium zur Hand und prüfe einen Artikel nach dem anderen, um festzustellen, wie man ihn übt. Ist man sich darüber klar geworden, fasst einen guten Vorsatz. Eine trockene und magere Betrachtung hilft uns nichts, wir sollen liebevoll betrachten. Weiß man dem Herrgott nichts zu sagen, dann bekennt man: „Herr, ich bin ‚tamquam iumentum ante te.‘“ (Anm.: „…wie ein Lasttier vor dir.“), aber ich halte aus, weil ich bei dir bleiben will. „Sed ego semper tecum.“ (Anm.: „Ich bin immer mit dir.“). Genügt das nicht, um den Geist zu beschäftigt zu halten, so nehme man sein Tagewerk her, und gehe es Punkt für Punkt durch. Dieses Studium, jene Aufsicht kostet mich etwas. Das lege man in die Hände Gottes oder unseres hl. Stifters, zusammen mit einem guten Vorsatz und werfe alles in die Liebe Gottes hinein.

Das ist eine wichtige Sache, sein Tagewerk vorbereiten, und keine verlorene Zeit. Womit verdienen wir uns denn den Himmel? Mit einigen Wochen, Monaten, Jahren. Bereiten wir sie darum gut zu, verbringen wir sie gut und erkaufen wir uns damit den Himmel!

Ein andermal bereiten wir unsere hl. Beichte vor. Wieder ein anderes Mal steht uns etwas Peinliches bevor, und wir legen unser Verhalten genau zurecht. Dabei achten wir darauf, nicht bloß eine die Schwierigkeiten vorausschauende Betrachtung zu halten, sondern eine liebende.

Und noch einmal: Finden wir dem Herrgott nichts zu sagen, so beteuern wir ihm: „Herr, ich verharre vor dir wie ein Wachposten.“

Bei der Krönung Karls X. versahen zwei kleine Pagen den Ehrendienst vor dem Thron. Beide brachen vor Ermüdung von dem langen steifen Unbeweglichen zusammen. Lasst uns vor unserem König ebenso treu Wache halten!

Fahren wir fort, unser kleines, schlichtes, einwandfreies, aber auch kraftvolles Leben zu führen. Gott ist es, der da handelt, und nichts vermag ihm zu widerstehen.