Kapitel vom (27.?)01.1886: Unser Ziel.
„Die Mitglieder der Genossenschaft stellen sich unter den Schutz des hl. Franz v. Sales. Sie machen sich zur Aufgabe, die Tugenden des Priester- und Ordensstandes nach der Lehre und im Geist des hl. Kirchenlehrers zu üben.“
Wir stellen uns somit nicht nur unter den Schutz des hl. Franz v. Sales, wir stellen uns vielmehr gänzlich unter die Leitung seiner Gedanken, seiner Lehre, seine Art zu handeln und zu urteilen. Dieser Heilige dient uns nicht bloß als „Adiutorium“ (Anm.: „als Helfer“) für die priesterlichen und klösterlichen Tugenden. Wir schöpfen vielmehr diese Tugenden aus ihm, aus seinem Lehrgut, aus seinen Beispielen. Er ist unser Modell, wir tun, was er uns vorgemacht hat, und in ihm finden wir die Gnade für unsere priesterlichen und klösterlichen Tugenden. Er ist nicht unser Schutzpatron, sondern wir identifizieren uns, soweit es sich nur machen lässt, mit seiner Person.
Die hl. Mutter Chantal schrieb ihm einmal: „Sie müssten Priester heranbilden, die Ihr Werk fortsetzen. Sie selbst müssten ihnen Ihren Geist einpflanzen, damit sie in Einheit mit uns arbeiten.“ Wir Oblaten haben diesen Gedanken verwirklichen wollen. Der hl. Franz v. Sales ist unser Vater in der ganzen Kraft dieses Ausdrucks. Wir wollen Erben seiner geistlichen Gaben sein und treten in ganzer Fülle in den Besitz seiner Gnaden, seiner Lehren und seines Einflusses über die Seelen ein.
Es gibt bewundernswerte Gründungen, die sich auf den Schutz des hl. Franz v. Sales stützen. Die Priester von Annecy zuerst: sie haben den Geist der Jesuiten und haben den hl. Franz v. Sales zu ihrem Patron erwählt, indem sie einige Praktiken von ihm übernahmen, besonders die Bußübung des Freitagabends. Doch die Gesamtheit des Geistes stammt von den Jesuiten. Sie hatten bereits eine fertige Regel, und der hl. Franz v. Sales hilft ihnen, diese Regel zu beobachten. Der hl. Don Bosco vollbringt sehr schöne Werke, weil es ein Heiliger ist. Er hat aber das Direktorium nicht und identifiziert sich nicht mit unserem Heiligen. Dieser ist wohl der Patron der Salesianer, und sie kommen ihm näher als die Priester von Annecy, aber es sind keine Oblaten.
Der hl. Stifter antwortete der hl. Mutter Chantal, dass er es versucht habe, dass es ihm aber nicht geglückt sei, Priester in diesem Geist auszubilden, weil die Männer dieses Landes allzu verstandesbetont und rechthaberisch seien, und darum allzu sehr an ihrem eignen Urteil hingen. Wenn Gott es einmal wolle, werde er es schon verwirklichen. Das ist der Sinn, wenn nicht gar die Worte des hl. Franz v. Sales. Lassen wir uns darum auf seinen Geist ein, damit wir das Werk unseres hl. Stifters verewigen können. Wir wollen gar nichts gründen, sondern setzen lediglich fort, was er begonnen hat. In der Absicht des Heiligen sollte es nicht einmal Gelübde geben. Allein die strikte, äußerst exakte Übung der Liebe sollte sie ersetzen und als Band unter den Mitgliedern der Kongregation dienen. Er wurde gezwungen, die Heimsuchung nach ihrem heutigen Erscheinungsbild zu gründen. Doch nach seinem ersten Willen sollten seine Ordensfrauen den besonderen Charakter der Liebe an sich tragen. Lasst uns also keine Ordensleute sein, mit einer Tünche von Franz v. Sales überzogen. Denn wenn wir uns Franz v. Sales nur überstülpen, gehen wir irre.
Das heißt es wohl begreifen. Wir sind Söhne des hl. Franz v. Sales, weil wir das tun und sagen, was er getan hat. Der Wesensgrund unserer Berufung liegt nicht außerhalb seiner Person, sondern alles liegt in ihm begründet. Indem wir tun, was er gesagt hat, können unsere Gelübde uns nur dazu verhelfen, es noch umfassender zu verwirklichen. Falls wir in Beziehung treten zu den Oblatinnen und der Heimsuchung Mariä, wollen wir ihnen den hl. Franz v. Sales vermitteln, ihnen also die Nahrung zukommen lassen, die auch unsere ist. Er ist Kirchenlehrer, unfehlbarer Lehrer, wie Papst Pius IX. sagte. Hier ist alles festgelegt und endgültig, wir brauchen ihm nur zu folgen und in seinen Geist einzudringen. Hier findet die Geschichte vom Arbeiter ihre volle Anwendung: Nicht die Theorie macht den Schreinermeister, sondern die schaffende Hand.
„Selbstheiligung sei darum ihr ernstes Bestreben. Umso wirksamer können sie dann an der Heiligung des Nächsten mithelfen. – Sie widmen sich den verschiedenen Aufgaben der Seelsorge, der christlichen Jugenderziehung und der Missionstätigkeit bei den Irrgläubigen und Heiden.“
Das erste Seelsorgewerk, das hier genannt wird, ist auch das Beste: die christliche Jugenderziehung. Der Jugend sollen wir nicht bloß geben, was wir im Verstand haben, den Unterricht, sondern was wir im Herzen tragen, alles, was heilig, recht und gotteswürdig ist.
Bestimmt sind wir auch für die Mission in den Ländern der Irrgläubigen und Ungläubigen. Damit haben wir bereits begonnen. Diesem Werk müssen wir unser Herz und unsere Seele hingeben. Wir sind Apostel und müssen darum Tugenden besitzen, die eines Apostels würdig sind, und zwar nicht eines Apostels im allgemein, sondern eines Apostels nach dem Geist unseres Kirchenlehrers, durch eine noch eifrigere und selbstlosere Übung des Direktoriums. Unsere Oblatenapostel geben sich Gott ohne Vorbehalt hin, sogar und besonders inmitten der schwersten Prüfungen. Bis heute hat Gott uns nach dieser Seite hin viele Tröstungen geschenkt. Vollbringen wir darum diese Werke im Geist der Liebe, der Sanftmut und Einfachheit. Fürchten wir nicht, als dumm angesehen zu werden, wenn wir so handeln. Die Gute Mutter war kein Dummkopf! Machen wir uns diesen Geist zu Eigen. Hüten wir uns peinlich, zu schreien und zu toben. Sprechen wir zwar mit Festigkeit, aber nur mit Güte!
Wir widmen uns schließlich sämtlichen Werken der Seelsorge: Volksmissionen, Beichttätigkeit, Predigtapostolat. Tut all das als Kinder des hl. Franz v. Sales. Bringt dazu seine Tugenden mit: seine Klugheit, Weisheit und Sanftmut. Die Gläubigen sollten bei den Oblaten diesen Stempel der Schlichtheit und Güte feststellen, die die Seele auf der Stelle in Beschlag nimmt und sie den Händen Gottes ausliefert. Wir dürfen die Seelen für uns beschlagnahmen, sondern um sie Gott zu übergeben, und müssen mit dem Apostel Paulus sagen können: „Ich habe mich keiner Sache bemächtigt, weder eurer noch eures Eigentums!“
Wer Ohren hat zu hören, der höre! Wenn ihr diese Dinge nicht gut versteht, bittet unseren hl. Stifter, sie euch verständlich zu machen. Erbittet es gleichermaßen von der Guten Mutter.
