Kapitel vom 04.11.1885: Der Geist der Kongregation.
Bevor wir in die Erklärung der Satzungen eintreten, möchte ich euch etwas sagen über die Anhänglichkeit und die innige Liebe, die wir zu unserer Genossenschaft und zu jedem ihrer Mitglieder hegen sollen.
Wir sollten die Kongregation als unsere Mutter lieben. Lieben sollen wir die Satzungen, die hl. Regel, die Observanz, die gegebenen Befehle. Wir schulden der Gesamtheit der Mitglieder der Kongregation Liebe, Herzlichkeit und Unterstützung, und das nicht nur so im Allgemeinen, sondern im Geist des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter Maria Salesia.
Große Liebe schulden wir unseren Satzungen, die unter Eingebung der Mutter Maria Salesia niedergeschrieben und von der hl. Kirche gebilligt wurden. Als ich im März 1875 nach Rom fuhr, lasen wir die Satzungen vorher der Guten Mutter als Ganzes vor und fassten mit ihr zusammen fast alle Artikel ab. Pius IX. hat uns sehr freundlich aufgenommen: „Ihr werdet es eilig haben“, sagte er uns. „Wir werden uns beeilen, dass ihr nicht lange warten müsst.“ Sechs Wochen später hatten wir die erste Approbation durch das Breve laudativum in Händen.
Was die Genossenschaft betrifft, sollen wir ihnen große Hochachtung und Liebe entgegenbringen. Wir sollen uns lieben nach dem Geist des hl. Stifters. Wenn wir nämlich darauf warten wollen, bis unsere Oberen und Mitbrüder heilig sind, müssen wir ins Paradies gehen. Nur dort werden unser Oberer, der liebe Gott, unsere Mitbrüder, die Engel und Heiligen vollkommen sein und ihr Benehmen und ihre Art zu handeln nichts zu wünschen übrig lassen. Machen wir uns den Geist unseres hl. Stifters zu Eigen! Welches ist dieser Geist? In jedem Nächsten, vornehmlich in jedem Mitbruder, die Gabe Gottes sehen! Unsere Mitbrüder sind ein kostbarer Schrein, ein heiliger Tabernakel, in den Gott eine Gnade niedergelegt hat, die wir ehren und lieben sollen. Sehen wir unseren Nächsten nur unter diesem Gesichtspunkt! Alles Übrige ist nichts. Die Gebrechen unserer Mitbrüder, was uns an ihnen schockiert, ist etwas Negatives, Fehlendes, wir dagegen halten uns nur beim Positiven auf. Fassen wir darum nur das ins Auge, was Gott in sie gelegt hat. Bei dem einen ist es die Festigkeit, beim anderen die Richtigkeit des Urteils, bei einem Dritten die Redlichkeit des Herzens...Das muss genügen, um sie zu schätzen und zu lieben. Gewahren wir daneben Rauheiten, so schließen wir die Augen darüber, weil sie das Werk des Menschen sind und nicht die Gabe Gottes. Wir hingegen suchen allein Gott. Da habt ihr eine kluge und fruchtbare Lebensregel, mit deren Hilfe wir immer unseren Nächsten lieben können. Das ist die Wahl, die ihr treffen könnt. Gott ist, so sagt er selber in den hl. Büchern, gütig zu dem, der ihn erkennt...
Ich preise Gott ob der Einheit, die in unserer Gemeinschaft hier herrscht. Das ist die Gabe der Guten Mutter Maria Salesia, die Einheit der Willen und der Herzen. Um diese Gnade müssen wir weiterhin beten. Beten wir zu den Armen Seelen im Fegefeuer um eine ehrfürchtige Liebe zu jedem unserer Mitbrüder, damit nichts uns von einander trenne, uns, die wir durch die Bande unseres hl. Stifters, das Band der Liebe, das das Band der Vollkommenheit ist, miteinander verbunden ist.
Seht, wie gerade unser hl. Stifter auf das Ziel losgeht, seht die kräftige Predigt, die er in zwei Worten über die Liebe hält. Er stellt keine langen Erwägungen an, sondern legt den Finger auf den empfindlichen Punkt. Stellt euch, was euren Nächsten betrifft, ganz auf den übernatürlichen Standpunkt. Liebt ihn nicht wegen seiner natürlichen Vorzüge, sonst verdientet ihr den Vorwurf des Heilands an seine Apostel: „Adhuc sine intellectu estis.“ (Anm.: „Ihr seid noch immer ohne Einsicht.“). Stützt euch nicht auf das Leben der Natur, auf die gängigen Überlegungen, sondern fasst die übernatürliche Seite ins Auge, die Gabe Gottes im Nächsten. Der gute Gott ist das Sein schlechthin, die Unvollkommenheit ist das Nichts. Uns gegenseitig unterstützen bedeutet unseren Geist zu den wahren, exakten Dingen erheben, heißt Gott finden.
