Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 11.03.1885: Die Tagesordnung, die täglichen Verpflichtungen (Teil 1)

„Die Tagesordnung muss in jedem Haus genau beobachtet werden.“
Die Tagesordnung, die die hl. Regel vorschreibt, soll in all unseren Häusern und Ämtern, z.B. auch wenn man Spiritual der Heimsuchung ist, beobachtet werden. Nur die Stundeneinteilung kann geändert werden, nicht aber die Gesamtheit der Übungen.

„Jeder befolge gern und genau das Geistliche Direktorium.“
Das ist unser Herzensanliegen. In Punkto Tugend und seelsorgerlichem Erfolg werden wir genau dem Grad unserer Treue zum Direktorium entsprechen. Das ist das Thermometer sowohl unserer persönlichen Vollkommenheit wie auch unserer Erfolge. Ich habe, sagte die Gute Mutter, festgestellt, dass die Gnaden Gottes und unserer übernatürlicher Einfluss in einem genauen Verhältnis zur Übung des Direktoriums stehen. Das sind unsere Ketten, unsere Bänder, die wir beständig auf unseren Armen und vor unseren Augen tragen sollen.

Für uns heißt das große Mittel: Treue. Halten wir Tage der Treue. Wenn wir Gnaden erlangen wollen, und wir werden sie mit Sicherheit erhalten. Wir müssen den Geist unserer Berufung pflegen. Dieser Geist entwickelt sich nur durch Gewöhnung und Tun, und nicht durch verständliche Begriffe. Wollen wir ihn also erwerben, müssen wir das Direktorium üben, denn es allein kann es uns geben. Wenig begabte Menschen haben dank der Übung des Direktoriums außergewöhnliche Dinge vollbracht.

„Das Aufstehen ist um 5 Uhr. Aufstehen, Morgengebet und Betrachtung dauern zusammen eine Stunde.“
Übungen, die wir nicht vornehmen, sollen wir ersetzen. So, wenn wir unsere Betrachtung zu machen verhindert waren, sollen wir sie tagsüber nachholen, indem wir alle unsere Handlungen und inneren Absichten im Geist des Gebetes vollziehen. So hielt es Franz v. Sales, besonders in den letzten Jahren seines Lebens, wo die Vielzahl seiner Beschäftigungen jeden Augenblick seines Tagewerks beschlagnahmte. Wir sollen dann all unsere Handlungen, um die Betrachtung zu ersetzen, besser verrichten und zu Gott sagen: „Komm zu mir, weil ich heute Morgen nicht zu dir kommen konnte.“ Wäre man für längere Zeit verhindert, die Betrachtung zu machen, bräuchte man dazu den Rat des Oberen oder Beichtvaters.

Die Betrachtung muss die Grundlage unseres Lebens sein, weil wir hier das Werk Gottes verrichten. Wie sollen wir nun betrachten? Die Gute Mutter lehrt, Betrachten sei ein Sich-Unterhalten mit Gott über unsere Angelegenheiten. Somit sollen wir uns mit Gott aussprechen über die Handlungen des Tages, unsere Sünden, unsere Schwierigkeiten, unsere Leiden, mit einem Wort: uns dabei ganz dem Zuge Gottes überlassen.

In der Seelenführung sollen wir auch unsere Beichtkinder zur Betrachtung anhalten. Und wie das? Auf die angegebene Weise. Keine fixe Methode anwenden. Eine Betrachtung mit Hilfe von Betrachtungsbüchern übertrifft die Kraft von drei Viertel der Leute.

Betrachtung mit Hilfe von verständlichen Erwägungen setzt eine gewisse Kraft und Fähigkeit voraus. Leiten wir die Menschen an, einfach so wie wir zu betrachten, wie die Gnade sie innerlich zieht. Haben sie Sünden, von denen sie sich nur schwer trennen können, sollen sie darüber ihre Betrachtung halten. Oder über ihr Tagewerk, ihre Pflichten. Die Betrachtung ist unser geistiges Morgenfrühstück.

Zurzeit unseres hl. Stifters war alles noch christlicher. Er konnte Betrachtungsmethoden empfehlen, weil man in den einzelnen Kollegien und Familien noch betrachten lernte. Man war daran gewöhnt. Heute ist das nicht mehr der Fall. Man muss jetzt erst sehen, was der einzelne zu tun vermag und eine Methode vermitteln, die seinen Arbeiten, seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen entspricht. So erfährt man, welche Nahrung seine Seele braucht, und wird zum Licht des lieben Gottes für ihn. Fragen wir darum erst die Seelen, was sie anspricht, was ihnen guttut, ob der Gedanke an den Himmel oder jener, dass Gott durch die Sünde beleidigt wird, etc. und geben wir ihnen dann das Mittel an die Hand, sich mit Gott eine Zeitlang über diesen Gegenstand zu unterhalten.
„Desolatione desolata est terra, quia nullus es qui recogitet corda.“ (Anm.: „Verödet ist die Erde, weil niemand mehr sich findet, der in seinem Herzen nachsinnt.“). Die Sakramente sind zwar eine Nahrung, aber noch keine Leben.

In jeder Seele finden sich feine göttliche Unterschiede. Am Seelenführer ist es, sie zu erkennen und die Seelen dem entsprechend in Verbindung und Einklang zu bringen mit Gott. Alle Seelen, selbst die verlassensten, weisen solche Nuancen auf. Als die Gute Mutter noch ein kleines Kind, mit Verwandten und Fremden in Beziehung trat, betete sie zu Gott: „Mein Gott, lehre mich gut unterscheiden, damit ich beobachte, was sich in jeder Person an Göttlichem findet.“ So blieb sie in ständiger Verbindung mit Gott.

Es geht also darum, dass wir die Seelen je nach ihrer Fassungsgabe die Betrachtung lehren, und zu diesem Zweck im Beichtstuhl beten und Gott um die nötige Erleuchtung bitten. Damit setzen wir die Seelen mehr als einmal in Erstaunen, indem wir ihnen genau das sagen, was sie brauchen. Alle Seelen wenden sich heutzutage von unserem Herrn ab. Wir müssen deshalb, wie die Gute Mutter zu sagen pflegte, eine feste und sichere Grundlage in ihr Herz legen.