Kapitelvorträge für die Oblaten 1873-1899

      

Kapitel vom 06.08.1880: Armut und Keuschheit.

Wir sollen die Armut unseres Herrn nachahmen. Das Evangelium schweigt sich über das Wie dieser Armut aus. Die Apostel gaben sich nicht die Mühe, sie zu charakterisieren, wie sie es beim Gehorsam taten. Diese Armut muss also nicht in die Augen gesprungen, aber doch untrennbar verbunden gewesen sein mit der Person unseres Herrn. Sie machte sich bemerkbar in unablässigen Verzichten. Unterwegs hatte er keinen Ort, sein Haupt auszuruhen. Da er kein Geld besaß, die gewaltige Menge in der Wüste zu speisen, nahm er seine Zuflucht zu einem Wunder. Später muss er seine Apostel Ähren rupfen lassen. Kurzum, es fehlte ihm einmal das, einmal dies.

Beobachten wir den großen Heiligen, der am genauesten die Armut unseres Herrn nachgeahmt hat: den hl. Franz v. Assisi. Er lebte wie die Armen Umbriens, ging wie sie barfuß und war gekleidet wie sie. Dabei ging es ihm sicher nicht um das Äußere, um das Kleid, sondern um das Gleichförmigwerden mit dem armen Herrn. All das tat er nur, um ihm ähnlich zu werden. Und gerade dadurch wurde er das vollkommenste Abbild des Erlösers, was das Äußere betrifft. Selbst seine äußeren Züge änderten sich. Er hatte die Wundmale des Herrn so genau empfangen, dass man vermeinte, den Heiland selber vorübergehen zu sehen. Wie aber war er zu dieser wunderbaren Ähnlichkeit mit dem fleischgewordenen Wort gelangt? Indem er sich bemühte, seine Armut nachzuahmen. Denn nichts verleiht uns mehr Liebe als die Gleichförmigkeit mit dem geliebten Wesen.

Auch wir die Armut in diesem Sinn. Unsere Situation ist jene von armen Arbeitern. Wir kleiden und nähren uns wie sie. Es sollte uns eine Freude bereiten, immer irgendeinen Mangel zu spüren. Mit einer Liebe sondergleichen sollten wir die kleinen Einschränkungen und Unbequemlichkeiten in unserer Behausung und Bekleidung auf uns zu nehmen. Sammeln wir die kostbaren Gelegenheiten, unserem göttlichen Meister ähnlich zu werden.

Sprechen wir jetzt über die hl. Keuschheit. Diese Tugend wird dargestellt durch eine Lilie. „Betrachtet die Lilie“, sagt der Herr. Diese schöne Blume setzt sich zusammen aus sechs Blütenblättern, die, nach einer kompetenten Erklärung, die sechs hauptsächlichen Andachten bedeuten, die wir pflegen sollen:

1. Die Andachten zum Allerheiligsten Sakrament: Lieben wir doch unseren Herrn im Tabernakel. Er wird „Panis absconditus suavis“ (Anm.: „Liebliches, verborgenes Brot.“). Ohne Zweifel ist er unter dieser Gestalt verborgen, liebenswürdiger als überall sonst, liebreizender als erscheine er uns sichtbar.

2. Die Andacht zum Kreuz. Wie zart liebte unser hl. Stifter das Kreuz! Seine ganze hat er hineingelegt in sein Buch über die Kreuzesfahne (L’Etendard de la croix.). Bitten wir ihn um das Verständnis, wie viel Liebe im Kreuz verborgen ist.

3. Die Verehrung zum hl. Herzen Jesu. Wie tröstlich ist es, wenn wir Mühsale erleben, uns in die Handwunde des Erlösers zu flüchten. Sind wir müde, suchen wir unsere Zufluchtsstätte in der Wunde seines Fußes. Tausendmal vorzuziehen aber ist es, in der hl. Wunde seines Herzens unsere Zuflucht zu suchen. So drückt sich der hl. Stifter aus, der wie der hl. Bernhard kein anderes Gezelt, keine andere Wohnstätte haben wollte als das Herz Jesu.

4. Die Andacht zur Seligen Jungfrau Maria. Sie hat unsere Wiege bewacht, sie wird auch unser ganzes Priesterleben beschützen. Wie die selige Jungfrau lässt auch der Priester Jesus in unserer Mitte zur Welt kommen, berührt ihn, befiehlt ihm als wäre er sein Herr.
5. Die Andacht zum hl. Josef sowie zur hl. Familie. Die hl. Theresia und nach ihr der hl. Franz v. Sales haben gerade diese Andacht sehr gefördert. Und erst neulich hat Papst Leo XIII. das Fest des hl. Joachim und der hl. Mutter Anna zu einem Fest höheren Grades erhoben, um uns einzuladen, sie mehr zu verehren.

6. Die Andacht zu den Heiligen und ihren Reliquien. Nie sah man einen Menschen verworfen werden, der eine besondere Andacht zu einem bestimmten Heiligen pflegte. Rufen wir einen Heiligen an, dann nimmt er uns unter seinen besonderen Schutz, und sein Gebet für uns wird unfehlbar erhört.

Das also sind die sechs Blütenblätter, die die schöne Blüte der Keuschheit zusammensetzen. Betrachten wir gern diese liebenswerte Blume und opfern wir sie Gott auf. Sie soll das Sinnbild unserer Keuschheit sein, und sein entblößter Stängel das unserer Armut.