79. Ansprache zur Profess des Paters Sillen zum Thema „Das Leben des Oblaten“ am 31.12.1901
Sie kommen, Ihre Gelübde in ganz besonders gelagerten Umständen abzulegen. Zur gegenwärtigen Stunde befindet sich in Frankreich das öffentliche Leben in Erregung, und die Gläubigen sind von Unruhe erfüllt. Alles scheint in hoffnungsloser Verwirrung befangen. Nirgendwo erblickt man eine wirksame Hilfe für die Misere, die uns niederdrückt. Das ist der Augenblick der Erwartung, von dem uns der hl. Johannes in der Geheimen Offenbarung spricht: nachdem er die verschiedenen Epochen der Kirchengeschichte aufgezählt hat, schreit er aus: „Veni, Domine Jesu!“ (Anm.: „Komm Herr Jesus!“), als er erkennt, dass nichts hier unten die Katastrophen, die die Welt bedrängen, aufhalten kann.
Auch wir können nur dieses eine tun: die Hilfe Gottes anrufen, da, wie der Glaube uns lehrt, das Gebet unwirksam, ja, allmächtig ist und Gott entschlossen ist, dem Menschen zu gehorchen.
Was soll ich Ihnen da sagen, mein lieber Freund? Soll ich Sie ermutigen? Das ist nicht nötig. Denn seit langem sagt Ihnen eine innere Stimme, Sie sollten ein Sohn des hl. Franz v. Sales werden. Die Erstlinge Ihres Dienstes bei uns haben Ihnen schon die Erfahrung gebracht, dass die Lehre des hl. Franz v. Sales gut verstanden und verwirklicht durch die Gute Mutter, einen tiefen Einfluss ausübt.
Sie ist etwas Vollständiges, weil sie positiv von Gott kommt und die Quintessenz des Evangeliums ist. Aus dieser Quelle schöpfen wir für jede Seele nicht irgendein Gut, sondern die eigentliche Frohbotschaft, das „Euangelion“, die Botschaft, die sie erleuchtet, tröstet und zu Gott führt. So wie die providentielle Gnade, die Magdalena zu Füßen des Auferstandenen, die Samariterin zum Jakobsbrunnen und den vielgeliebten Apostel zum göttlichen Meister am Jordan führte, der ihm für seine Treue das Wort des Lebens brachte. Denn das fleischgewordene Worte wollte durch seine Herabkunft unser Leben zur Gänze mitleben: Essen, Freuden und Unruhen, selbst unsere Erbärmlichkeiten. So sagt auch der Prophet: „Er hat vom selben Brot gelebt, vom selben Kelch getrunken, süß und bitter.“
Da handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit. Nehmen Sie sie tief in Ihr Herz auf, vor allem durch die Praxis. Man versteht nur das bis zum Grund, was man Tag für Tag tut, was man berufsmäßig betreibt und was unsere beständige Beschäftigung bildet. So werden Sie, wenn Sie Ihre Lebensweise treu führen, diese liebgewinnen und auch Ihren Anbefohlenen Liebe zu ihr einflößen. Wenn Sie predigen, beichthören und alle anderen Pflichten Ihres apostolischen Dienstes ausüben, wird man spüren, dass Sie das Echo der göttlichen Stimme sind und Worte des ewigen Lebens sprechen.
Haben Sie also Mut zu Ihrer Berufung. Seien Sie ein Mann des Gebetes, ein Mann des Direktoriums. Tun Sie nichts allein, denn Menschenwerk allein ist unfruchtbar. Hilft aber Gott mit, wird es allmächtig, weil er keine Grenzen unserer übernatürlichen Aktion festgelegt hat. Leben Sie von dieser Lehre. Sie bilde Ihre Nahrung. Atmen Sie unablässig ein. Sie erfreut das Herz: „Calix meus inebrians, quam praeclarus est.“ (Anm.: „Mein Kelch ist berauschend, wie herrlich ist er doch!“)! Engel und Heilige berauschen sich an diesem Kelch und bieten ihn den treuen Seelen an.
Ja, fassen Sie hohen Mut! Gewiss sind die Trübsale der Kirche heutzutage groß, aber ist Gott denn nicht für uns? Hat sein heiligstes Herz aufgehört zu schlagen? Blickt er uns nicht mehr an? O bestimmt doch! Im Augenblick des Sturmes erscheint er plötzlich, und klare Augen erkennen ihn: „Dominus est.“ (Anm.: „Es ist der Herr!“).
Auch die Gute Mutter wird Sie lieben. Und wir, mein treuer Freund, wir lieben Sie ebenfalls. Wir bewundern Ihren Glauben, Ihren Eifer. Lassen Sie sich von der Guten Mutter helfen. Empfangen Sie die Frucht unserer Gebete, die auf Sie in Form von überreichen Segnungen herabkommen wird, um aus Ihrer Gelübdehingabe eine Ruhmeskrone und ein Unterpfand Ihrer Heiligung zu machen.
Das wird wirklich die Einweihung in Ihr ewiges Leben sein. Ist doch der Himmel nichts anderes als die Fortsetzung unseres wohlverstandenen jetzigen Lebens, und dieser Himmel wird umso schöner sein, als wir hier unten mit umso größerer Liebe, Großmütigkeit und Hingabe begonnen haben.
Und Sie werden Ihrerseits für uns beten, für uns alle, für mich im Besonderen, damit Gott mir Mut und Licht in den derzeitigen schwierigen Zeitläufen geben möge. Nach der Sprache der Apostel geht die Kirche zurzeit durch das Wasser der Tränen und das Feuer der Trübsale, wo der Sturzbach der Ruchlosigkeit bis zum Überlaufen ansteigt. Mehr denn je gilt: „Quis stat, videat ne cadat! Qui sanctus es, sanctificetur adhuc!“ (Anm.: „Wer steht, sehe zu, dass er nicht falle! Wer heilig ist, heilige sich noch mehr!“)!
So wird Gott wenigstens einen Platz in unseren Herzen finden, und wir finden bei ihm Heil und Glück. Amen.
