Ansprachen

      

78. Ansprache zur Gelübdeerneuerung am Fest Mariä Opferung am 21.11.1901

Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt unsere Gelübde erneuern. Was sind das, Gelübde? Lägen wir in diesem Augenblick auf dem Sterbebett und würde Gott uns fragen: „Custos, quid de nocte.“ (Anm.: „Wächter, wie weit sind wir in der Nacht.“), was hätten wir darauf zu antworten?

Sind wir nicht Schuld an dieser Nacht? Kommen die Finsternisse, die unseren Verstand und unser Herz einhüllen, nicht von dem Schleier, den wir selbst über unsere Augen breiten? Eine ernste Frage, zweifellos. Gewiss sollen wir nicht auf einem Weg des Schreckens dahingehen und in Gott einen unerbittlichen Richter sehen. Dennoch bleibt Gott der Gerechte, und was er für uns tut, entspringt einem bedingungslosen und unbeugsamen Willen. Er kann jederzeit in unserer Kassa nachprüfen, was an Vorrat vorhanden ist, wie wir seine hl. Sakramente ausgeteilt, seine Gnaden, die er jeden Augenblick den Ordensleuten, und besonders den Oblaten des hl. Franz v. Sales mitteilt, verwaltet haben. Da ist, meine Freunde, eine Rechenschaft abzulegen. Es ist Zeit, daran zu denken. Wir befinden uns auf einem glitschigen Weg, gewiss. Aber es bleibt doch wahr, dass jeder, der fällt, auf seine eigene Rechnung fällt. Wir müssen also unsere Gelübde erneuern, indem wir gut unsere Pflichten erfüllen.

Bevor ich das Wort hier ergriff, wollte ich mich von der Hl. Schrift inspirieren lassen. Ich öffne die Konkordanz beim Artikel „Gelübde“ und lese da eine ganze Reihe von Stellen, die alle energisch auf der Schwere der übernommenen Verpflichtungen gegenüber Gott bestehen und schreckliche Drohungen gegen die Übertreter ausstoßen. Gott zwingt euch nicht, Verpflichtungen einzugehen. Aber einmal übernommen, werden sie rigorose Gesetze. Unter den Menschen ist ein Kontrakt etwas sehr Heiliges, sonst wäre ja keine Gesellschaft möglich. Ist aber Gott selber im Spiel, so werden die Verpflichtungen noch viel zwingender. Daran heißt es denken, damit wir nicht vor Gott hintreten mit einem überladenen Aktenbündel und einer unausgeglichenen Last. Darum möge jeder in den Grund seines Gewissens hinabsteigen, um es im Angesichte Gottes zu überprüfen und sich an alles zu erinnern, was er versprochen hat. Niemand, der sich ihm übergab, hatte zwar die Absicht, illusorische Versprechungen zu machen und Gott zu verspotten. Ich weiß auch sehr wohl, dass zur gegenwärtigen Stunde die Menschen sich durch gegenseitig eingegangene Eide nicht sonderlich verpflichtet fühlen. Hier handelt es sich aber um Gott!

Ihr werdet mir sagen: „Na, das ist richtig.“ Aber die derzeitigen widrigen Umstände, der Zustand unserer Kommunität, das Beispiel unserer Umgebung, der Mangel an Leitung… Machen die Regeltreue schwierig. Ich stimme all dem zu, doch all das mindert in keiner Weise die klösterlichen Verpflichtungen eines jeden Oblaten. Unsere Satzungen sind denen der anderen Orden nämlich nicht ganz und gar gleich. Bei den Benediktinern z.B. gilt der Satz: „Deficit locus, deficit monachus.“ (Anm.: „Fehlt der Ort, das Kloster, dann fehlt auch die klösterliche Verpflichtung.“). Bei uns diese Verpflichtungen aber mit der Person verknüpft. Was wir Gott gelobt haben, bindet uns ganz eng, und das Direktorium ist es, das uns den Weg anzeigt. Ob du Kaufmann, Prediger, Soldat oder Lokomotivführer bist, einer eifrigen Kommunität angehörst oder mitten in der Welt lebst, was schlägt es? Die Kommunität bist du! Deine Pflicht ist absolut personengebunden. Alls, was du Gott versprochen hast, musst du entsprechend den Satzungen halten. Unsere Stärke liegt nicht in der Menge der Mitglieder und in der Zusammenfassung aller Kräfte, sie liegt in uns, sie ist personenverhaftet.

Darauf zielen somit die Gelübde ab: wir selbst sind uns Gemeinschaft, Stärke, Armee. Heißt das etwa, dass wir uns gegenseitig nicht verstehen, dass es in der klösterlichen Observanz und in unseren Seelsorgewerken keinen Zusammenklang gibt? Ganz und gar nicht, im Gegenteil! Je regeltreuer wir in unserem Inneren sind, umso besser verstehen wir uns gegenseitig, da wir denselben Atem, dieselbe Inspiration haben.

Es geht hier ja nicht um eingebildete Versprechen. Begnügt euch darum nicht mit einem „Ungefähr“, bringt Gott kein zerbrochenes Gefäß, was er im Gesetz verboten hat. Auch kein unvollständiges Opfertier. Er zieht es vor, überhaupt nichts zu empfangen als eine beschmutzte Opfergabe, ein beflecktes und angeschnittenes Schaubrot zu erhalten… Ich komme hier vom Hundertsten ins Tausendste, meine Freunde. Ich wende mich ja nicht an euren Verstand, sondern an euer Gewissen. Fasst darum alle einen großmütigen Entschluss, Gott zu geben, was ihm zusteht. Gleicht nicht den beiden Söhnen des untreuen Propheten Heli, die das Beste der Opfergaben für sich behielten und Gott den Rest gaben.

Ist das schwierig? Nein, wenn ihr in euer Herz ein bisschen Eigenliebe oder besser noch ein bisschen Gottesliebe liegt, ein wenig von jener Männlichkeit, die sagt: „Ich habe versprochen, ich habe es versprochen. Lasst uns also vorangehen!“

Im Übrigen, welche Entschuldigung könntet ihr anführen? Die Erfüllung der hl. Regel ist schwierig… Und ich antworte euch: „Wenn ihr einem Hindernis begegnet, dann ist eure Treue das Doppelte wert als wenn alles leicht vonstattenginge. Begegnet ihr zwei Hindernissen, dann vermehrt sich auch ihr Wert um eine weitere Stufe. Und im Übrigen, haben wir nicht einen freien Willen und so Allmacht über unser ganzes Sein? Mag die Versuchung mitunter die Schwere des Falles mindern, zugegeben. Aber noch einmal: es gibt keine annehmbare Entschuldigungen.

Wir wollen uns darum durch die Übung des Direktoriums erneuern. Helfen wir uns mit der siegreichen Unterstützung Gottes, da unser Herr bei uns bleibt bis zum Ende der Welt.

Wo aber finden wir diese Hilfe? In der hl. Eucharistie, im hl. Messopfer. Warum also nicht jeden Tag beim hl. Opfer seine Kräfte erneuern? Am Altar bildet der Priester mit dem Erlöser eine Einheit. Er sagt positiv: „Hoc est corpus meum.“ (Anm.: „Das ist mein Leib.“). Herrscht also hier keine Teilung und Trennung, dann auch nicht den übrigen Rest des Tages über. Lasst uns von diesem Gedanken tief durchdringen.

Tragt zur hl. Messe eure Schwierigkeiten, Peinen, Verdrießlichkeiten, die Wunden eures Herzens, eure Unsicherheiten und Schwächen. Versenkt alles in die Barmherzigkeit des Erlösers. Er gehorcht euch, er gehört euch in diesem Augenblick. Bittet ihn, die Last eurer Seele zu erleichtern, die Versuchung wegzunehmen. Die hl. Messe muss der Startpunkt für euer Tagewerk sein, der Augenblick, wo ihr euch in Gott hinein flüchtet. Versprecht Gott jetzt gleich beim Segen mit dem Allerheiligsten, dass ihr die hl. Messe gut feiern wollt.

Das war das große Hilfsmittel des hl. Franz v. Sales. „Mein Vater“, fragte ihn die hl. Mutter Chantal, „haben Sie keine Zerstreuungen bei der hl. Messe?“ „Meine Tochter“, gab er zur Antwort, „Gott hat mir die Gnade erwiesen, nur an ihn und die Interessen seiner hl. Liebe zu denken, sobald ich das Gesicht zum Altar wende.“

Und nach der Messe folgt die Übung des Direktoriums. Die Zeiten sind schwer. Beachtet, wie die Lehre des hl. Franz v. Sales uns schützt vor allen Gefahren. Wir bleiben für uns, wir sind solide Ordensleute. Wir brauchen keinen Schutz gegen die Außenwelt, da wir Gott in uns tragen und uns seiner gemäß den Umständen bedienen.

Erneuern wir darum unsere Gelübde mit dem Wunsch, ganz Gottes zu sein, in Vereinigung mit ihm zu leben, jeden Tag aus der Verbannung dieses Lebens in seine Gesellschaft überzugehen und nichts ohne ihn zu tun. Damit ist man glücklich, gewinnt Seelen, lebt als Oblate. In Rom und allerorten bestätigt man uns, diese Lehre führt zum vollkommensten Leben, das am besten abgestimmt ist auf die Bedürfnisse der Stunde und die Erwartungen jedermanns.

Möge der Herr selbst in euer Herz legen, was uns hierfür nottut. Dann wird unsere Erneuerung keine Lücken, Gott wird über uns seine Segnungen ausgießen, und euer Leben auf dieser Erde nicht unnütz gewesen sein. Es wird uns zur Seligkeit führen, die Gott all denen bereitet, besonders seinen treuen Dienern. Geht auf diesem Weg voran, meine lieben Freunde, und ihr gelangt zur Seligkeit des Lebens, zur Eroberung der Seelen und am Ende eurer Tage zum Paradies. Amen.