Ansprachen

      

75. Ansprache zur Gelübdeerneuerung am Fest Mariä Opferung, den 21.11.1900

„Ecce mysterium dico vobis“, ich will euch ein Geheimnis verkünden, meine lieben Freunde… Wie das denn? Indem ich eure Aufmerksamkeit auf eine innere Einstellung, auf eine Seinsweise hinlenke, die im heutigen Christentum kaum noch lebendig ist, die aber gleichwohl das Fundament des christlichen Lebens bilden müsste, besonders des Ordensstandes: ich meine das Leid, oder besser: das Opfer.

Der Erlöser kam auf unsere Erde, um uns zu erlösen. Er nahm Fleisch an und wurde ein Mensch, uns gleich. Er hat gearbeitet, gelitten und ist gestorben zu unserer Erlösung. Dad christliche und das Ordensleben besteht nun gerade darin, unseren Herrn nachzuahmen in den Tugenden seines gewöhnlichen Lebens und in der Befolgungen der Ratschläge, die er uns gegeben hat.

Unser Herr gab uns Gebote und Räte, und er gab uns vortreffliche Beispiele. Mit all dem wollte er jenes geheimnisvolle Ding verbinden, das sich „Opfer“ nennt. Uns aber lädt er ein, zusammen mit ihm das Opfer darzubringen und in gewissem Sinn sein Opfer durch unseren Beitrag zu vervollständigen. Hat der hl. Paulus nicht gesagt: „Adimpleo ea quae desunt passionem Christi?“ (Anm.: „Ich ergänze, was am Leiden Christi noch abgeht?“).

Wenn nun schon jede christliche Seele das Leiden Christi ergänzen, das Opfer und das Geheimnis der Erlösung fortsetzen soll, dann gilt diese Pflicht vor allem uns, den Ordensleuten. Und wir erfüllen diese Verpflichtung durch die Treue zu unseren Gelübden, zu jenen Gelübden, die wir jetzt erneuern wollen: Armut! Sie ist zwar nicht das schwerste Gelübde, was man hat, während es unvergleichlich schwierigerer ist, das hinzugeben, was man ist. Wir aber fügen voller Entschlossenheit die Keuschheit und den Gehorsam hinzu.

Das Opfer des Mysteriums Christi muss fortgesetzt werden, weil es ewig ist. Öffnet nur die hl. Bücher. Da lest ihr: „Vidi subtus altare animas interfectorum.“ (Anm.: „Ich sah unter dem Altar die Seelen der Getöteten.“)… Immer gibt es Verfolgungen, christliche Seelen, die von tyrannischen Mächten unterdrückt werden. „Warum lässt du, o Gott, das geschehen?“ „Usque quo, Domine, non iudicas et non vindicas sanguinem nostrum.“ (Anm.: „Wie lange, Herr, richtest du nicht und rächst nicht unser Blut?“). Wartet nur!

Was noch nicht vollendet ist im Mysterium des Leidens Christi, findet erst seine Vollendung, damit Gott das Reich der Gerechtigkeit in seine Gänze aufrichten kann. „Adhuc tempus modicum donec compleantur conservi eorum et fratres eorum qui interficiendi sunt sicut et illi.“ (Anm.: „Nur noch eine kurze Spanne Zeit, bis die Mietknechte und Brüder derer, die getötet werden müssen, wie jene vollendet werden.“). So sind die Dinge geregelt. Wer aber soll das Opfer erfüllen und vervollständigen?

Ihr werdet mir antworten: „die Gläubigen“. Im Leben der Menschen gibt es wahrlich genug körperliche und seelische Leiden, genug Seelenqualen, die als Ergänzung dienen können. Gewiss, das ist wahr. Wie viel geht aber von diesen Leiden unbeachtet verloren! Wer versteht schon, sie anzunehmen, und sich ihrer zu bedienen, ohne sich aufzulehnen und zu murren?

Nein, es sind vielmehr die Ordensleute, die da sind für das Opferbringen. Und gerade aus diesem Grund haben sie sich einem strengeren und raueren Leben unterworfen: Um das Opfer Jesu Christi zu ergänzen.

Wir Oblaten aber kommen in den letzten Tagen der Kirche zu einem Werk, das kein anderes sein kann, als das der Ordensleute, die uns voraus gegangen sind. Wir kommen zu einer Zeit, wo die Wogen des Bösen hochgehen und alles zu überfluten drohen. Wir müssen uns deshalb mit unserem ganzen Herzen an die Arbeit machen. Wir sind berufen, die Todesangst am Ölberg und den blutigen Schweiß zu vervollständigen: „Pater, transeat a me calix iste!“ „Vater, möge dieser Kelch an mir vorübergehen!“ Dein Wille geschehe, nicht der meine…! Und diesen Kelch heißt es trinken bis zur Hefe! Genau das wird uns Oblaten abverlangt. Bei den anderen genügt es, dass sie die Lippen damit netzen. Wir dagegen müssen religiöser sein, als irgendwer sonst, wir die inmitten der Ängste, des Chaos und des Sturmes geboren sind, die sich „heutige Gesellschaft“ nennen.

Bemühen wir uns, meine Freunde, auf der Höhe unserer Sendung zu sein. Erfüllen wir unsere Aufgabe, erfassen wir entschieden den Teil, der uns zukommt! Begreifen wir die Pflicht, die uns da zufällt: dass wir annehmen und auch geben, auf eine Art und Weise, die das Maß vollmacht, dass das Gefäß der göttlichen Gerechtigkeit durch den Beitrag unserer Tränen, unserer Leiden und unseres Blutes voll werde.

Zu diesem Zweck, meine Freunde, heißt es zum Direktorium greifen. Sagt uns dieses Büchlein nicht, wir sollten aus der Hand Gottes und des Erlösers all die Pein und Abtötung annehmen, die uns bei jeder Handlung begegnen, alles, was uns unangenehm, mühselig und kreuzigend erscheint. Wir müssen es annehmen, und zwar im Voraus schon, und das bei allen Handlungen unseres Lebens. Kein Wasser darf unseren Durst löschen, das nicht veredelt ist durch jenes geheimnisvolle Holz, das den Kindern Israels in der Wüste angeboten wurde. Der hl. Stifter erlaubt nicht, dass Kreuz und Abtötung fehlen bei allem, was wir tun oder empfangen. Er will, dass Bitterkeit wenigstens in einigen Tropfen jedem unserer Akte innewohne. O dass wir dieses Kreuz immer annähmen und jederzeit trügen! Mit Bitterkeit? Nein, nicht mit Bitterkeit, sondern mit Standhaftigkeit und Liebe…

Gott sieht dies gern, meine Freunde. Und wer wäre der, der nicht jeden Tag etwas Bitteres und Mühsames zu tragen hätte? Wir sollten unsere Lippen fern und freudig an diesen Kelch der Kinder Adams heften. Es ist der Kelch der Bitterkeit, sagt der hl. Bernhard, sondern der Kelch der des Heiles. „Calicem salitaris accipiam.“ (Anm.: „Den Kelch des Heiles will ich ergreifen.“). Nehmen wir nicht nur den Kelch entgegen, sondern küssen wir auch die Hand des Erlösers, die ihn uns darreicht. Wird unser Leben dadurch traurig? Nein, meine Freunde, wir finden vielmehr das wahre Leben und die Freude in diesem Sterben. „Non es deus mortuorum, sed viventium.“ (Anm.: „Er ist kein Gott des Todes, sondern des Lebens.“). Er ist da, um uns das Leben zu kredenzen. In diesem Sterben schöpfen wir Kraft und unbezähmbaren Mut. Wer kann da über uns triumphieren? Die Trübsal, die Angst, der Hunger? Feuer oder Fesseln? Nichts voll alledem. Wir haben vielmehr unsere Kräfte zu diesem Kampf verhundertfacht.

In diesem Geist lasst uns die Gelübde erneuern: Armut, Keuschheit und Gehorsam. Praktiziert man sie in dieser Absicht, welch ein köstlicher Balsam! Wie süß ist es, die Leiden eines Freundes zu teilen, sie zu mildern, dem Erlöser die Leiden zur Hälfte abzunehmen, ein bisschen verwundet und gekreuzigt neben ihm zu sein. Viele Gründe drängen uns, zur gegenwärtigen Stunde im Opfer großmütig zu sein… Sucht man denn nicht in den intimsten Heiligtümern, bis in die letzten Zufluchtsstätten hinein, den Glauben an Jesus, den Glauben an Gott aus den Herzen zu reißen?

Seht ihr denn die mit Stöcken und Fackeln bewaffneten Männer nicht, wie sie den Heiland durch die Dunkelheit von Getsemani verfolgen, um in dem Tod zu überliefern? … Die falsche Wissenschaft hetzt ihn bis nach Nazareth, bis nach Bethlehem in seiner Wiege… Sie möchte ihn bis auf sein Andenken und seinen Namen vernichten.

So ist die Lage und daraus ergibt sich unsere Pflicht. Erneuern wir uns darum großmütig in diesem Geist des Opfers und der Erlösung.

Die Gute Mutter pflegte zu sagen, das Evangelium müsse neu gedruckt werden, wir müssten den Erlöser begreifen und den Seelen begreiflich machen, dass wir ihn nachahmen und in uns aufleben lassen können.

Noch einmal, ist das ein hartes und mühseliges Leben? Nein, es ist der Kelch des Heiles! Und dieser Weg ist sicher, da wir ihn zusammen mit dem Erlöser gehen und unser Kreuz neben dem seinen tragen, ohne Furcht, uns im Weg zu täuschen. Das muss uns auf eine liebendere Weise mit ihm verbinden, dieses Kreuz eines jeden Tages, das wir lieben und tragen, diese kleinen Opfer, die wir unablässig dem Herrn darbringen. Erneuern wir uns in dieser Überzeugung, dass dieses der Daseinsgrund und Lebensinhalt des guten Ordensmannes ist.

Wie viele Seelen kämen dann zu uns und würden sich bei uns bald erleuchtet fühlen! Dann würden wir Gott das geben, was er von uns erwartet. Die Seelen, die wir ihm zuführen würden, entsprächen  an Gewicht dem, was er uns geschenkt hat. Und seine Güte würde uns belohnen, indem sie uns in einer noch überfließenderen Zahl Seelen schenken würde und die Macht, immer neue Namen im Himmel einschreiben zu lassen. Ist dies Leben in einem gewissen Sinn nicht ebenso tröstlich wie der Himmel? Jawohl, tröstlicher, möchte ich fast sagen, denn wir können Gott das Vergnügen an einer größeren Zahl von Seelen verschaffen, die ihn loben werden von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.