73. Ansprache zur Aufnahme ins Noviziat des P. Gallon zum Thema „Treue zur Regel“ am 25.08.1900
Mein lieber Freund! Jedes Jahr machte ich meine Exerzitien in der Großen Kartause, gewöhnlich in der Kartause von Bosserville bei Nancy. In einem gewissen Jahr war dort soeben ein Novize von 65 Jahren eingetreten, Pfarrer einer großen Pfarrei von Nancy, ein Mann, der mehrmals zum Bischof vorgeschlagen worden war. Er erfreute sich allgemeiner Hochschätzung, war gesucht von zahlreichen Beichtkindern beiderlei Geschlechts, geliebt von seinen Pfarrkindern, besonders von seinen eigenen Kaplänen. Zum Novizenmeister und Prior sagte er beim Eintritt: „Ich habe nur einen Kummer, dass ich nicht mehr die Verneigungen und Kniebeugen machen kann wie die anderen Patres. Ich habe es oft versucht… Doch meine Knie und meine Lenden wollen nicht mehr… Das ist traurig und demütigend, für seine Mitbrüder ein Gegenstand von Unsegen zu sein…“ Pater Retournat erzählte mir das.
Ist das nicht schön von Seiten eines Pfarrers, der seit vierzig Jahren ein aktives Apostolat in einer großen Stadt ausübte, inmitten eines so hervorragenden Volkes wie das von Nancy. Wie schön von ihm, solch eine Bedeutung der Art beizumessen, wie man Gott grüßt und seine Kniebeugung macht. Wenn man es recht überlegt, versteht man, warum er, wenn er schon Kartäuser werden will, auch äußerlich die volle Form eines Kartäusers annehmen möchte und zwischen sich und der Ordensregel keinen einzigen Unterschied und Zwischenraum duldet, damit sein Opfer komplett und absolut werde. Denn alles erfüllen, was die Regel vorschreibt, ist etwas Großartiges! Das zeugt von einer hohen Intelligenz und starken Tugend. Handeln auch Sie so, mein lieber Freund! Betrachten Sie Ihre Regel, Ihr Direktorium und die Gebräuche des Hauses als etwas Heiliges, das Sie ins Herz geschlossen haben und dem Sie sich ohne Vorbehalt hingeben.
Die kleinen Dinge… Was ist das? Das ist der Himmel, das Paradies auf Erden. Das ist Eins-Werden mit dem Erlöser und Erfüllung seines Wortes: „Estote perfecti, sicut Pater vester caelestis perfectus est.“ (Anm.: „Seid vollkommen wie euer Vater im Himmel vollkommen ist…“)…
Was kann den Kartäuser, den Oblaten, der seine Regel hält, von Gott trennen? Nichts. Er gebraucht seine Füße, um dem Herrn zu folgen, seine Augen, um ihn zu sehen, sein Herz, um ihn zu lieben, seinen Mut und seine Kräfte, um ihm zu gehorchen. Dafür empfängt er seinerseits Gottes Gnade in ihrer ganzen Fülle und Aktivität. Und warum das? Hat der Oblate etwa große Opfer gebracht, schwere Tugendakte vollbracht, eine Lebensweise strenger äußerer Bußwerke geführt? Nein, sondern weil er kleine Dinge treu vollzieht, unauffällige Pflichten erfüllt, die der Weltmensch nie begreift weil er spricht wie sein Erlöser, handelt wie sein Erlöser.
Hört folgende Bemerkung, die von höchster Bedeutsamkeit ist: Nehmt einen Blutzeugen her, er stirbt in den Qualen des Martyriums. Das ist sicher sehr schön. Und nun stellt daneben einen Oblaten, der tut, was ich euch gesagt habe, in jedem Augenblick und sein ganzes Leben hindurch, und er tut es auf eine vollkommene Weise. Soll sein Lohn da geringer ausfallen als der des Martyrers? Fragt den hl. Alfons von Ligouri, fragt den hl. Thomas von Aquin, sie antworten euch mit „Nein“, und sie täuschen sich darin nicht. Und damit stimmen sie wieder einmal mit der Guten Mutter überein, auch mit der Schwester Maria Genofeva, die mir erzählte, was gerade im Himmel geschieht, und mir die Wahrheit ihrer Geschichte bestätigte durch Versprechungen, die sich augenblicklich erfüllen…
Woher wusste sie aber, was da im Himmel geschah? Nun, der Engel, der ihr diese Dinge offenbarte, konnte ihr ebenso leicht das sicherste Mittel nennen, um in den Himmel zu kommen… Wenn Sie das tun, mein lieber Freund, haben Sie keine Gefahren zu fürchten. Mitten hindurch werden Sie schreiten. Und was gibt Ihnen die Kraft, die Feinde zu überwinden? Die Treue zu den kleinen Dingen! Ohne das werden Sie in den Schwierigkeiten und Versuchungen den Kopf verlieren und vielleicht sogar fallen!
Die Treue ist so schön! Das lässt keine Gefühle des Stolzes zu, das heizt die Phantasie nicht künstlich an. Mit diesem Mittel geht man ehrlich, einfach und sicheren Schrittes seinen Weg.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass dies nicht der einzige Weg zum Himmel ist… In manchen Orden ist das Noviziat hart, voll körperlicher Abtötung, Demütigungen und Schlägen gegen die Eigenliebe. Wir hier gehen nicht so weit, wir arme kleine Oblaten, zu nichts fähig, „Missgeburten“, wie der hl. Paulus sagt. Seien wir es auf die gleiche Art und Weise wie er. Das wäre gar nicht so schlecht!
In diesen strengen Orden tötet man das Fleisch ab und mit dessen Hilfe den Willen. Das ist sicher ausgezeichnet und vollkommen. Aber Vorsicht! Der Teufel ist raffiniert! Diese heftigen Übungen ziehen für gewöhnlich eine Reaktion nach sich, manchmal eine Katastrophe, wenn die Seele noch nicht hinreichend gestählt ist, um die Erschlaffung zu meistern, die solch starke Anstrengungen auslösen, um die Niedergeschlagenheit und nachfolgende Mutlosigkeit zu überwinden. In unserem Leben hingegen weiß der Teufel nirgendwo anzubeißen. Er erleidet eine Niederlage nach der anderen. Ihr steht des Morgens auf, hört eure Messe, macht eure Danksagung, geht zu jeder Übung mit Demut, indem ihr Gott um seinen Beistand anruft. Ihr befolgt die Erleuchtungen und Eingebungen eurer Betrachtung vom Morgen und habt si einen Tag gewonnen, der im Himmel eingeschrieben ist… Würde aber eine energische Seele nicht ein mannhafteres Leben vorziehen, etwas, das mehr fordert? Beruhigt euch. Wenn die Gelegenheit sich bietet, wird, wer in kleinen Dingen treu ist, alles ehrlich und einfach zu tragen wissen. Sieht er doch überall und jederzeit den Willen Gottes verborgen. Und obendrein hat der Wille dank dieser unaufhörlichen Arbeit sich gestählt und das Herz großmütig gemacht.
Geben Sie sich darum vom Noviziat an einer treuen Pflichterfüllung hin! … Schon seit langer Zeit konnte ich die Wirksamkeit der treuen Observanz feststellen. Die Priester, die ich vom Seminar her kannte als gewissenhafte Erfüller der Hausordnung, sind heute zum größten Teil gestorben. Doch ließen sie bleibende Spuren zurück. Man vergisst sie nie. Sie gereichten der Kirche zur Ehre. Vor zwei Jahren wohnte ich dem fünfzigjährigen Priesterjubiläum eines dieser Priester bei. Er wurde von seiner Pfarrei rührend verehrt, in der er alle getauft und einen großen Teil getraut hat. Seine Pfarrei ist eine der besten der Diözese. Wovon kommt das? Weil er ein Heiliger war. Und warum war er ein Heiliger? Weil er seine kleine Hausordnung aufs Pünktlichste erfüllt hat und weil er das auch später tat wie in den Jahren des Seminars. Hätte er das nicht getan, wäre er deshalb noch kein übler Mensch und kein schlechter Priester gewesen. Was hätte er aber an Gutem hervorgebracht? Und einmal gestorben, was wäre von seinem Priesterdienst noch übrig geblieben? Hier also liegt das Geheimnis der Stärke: in der Treue zur hl. Regel, in der Treue zum Kleinen. Diese Lebensweise müsst ihr liebgewinnen, und wenn ihr dann später zu den Seelen geht, werdet ihr, gottgeeint, euch sehr stark fühlen. Das ist der Wahlspruch, die Losung meiner Kirche von Charny: „Os Christi Evangelium“ (Anm.: „Der Mund Christi ist die Frohbotschaft.“). Euer Wort, eure Gegenwart, ja euer bloßer Anblick wird dann wie eine lebendige Predigt wirken: die Predigt unseres Herrn selbst.
Warum is der hl. Franz v. Sales ein so großer Heiliger geworden? Warum hat er mehr Wunder gewirkt als viele andere? Schaut sein Leben an. Betrachtet es durch das kleine Loch hindurch, das der Bischof von Belley in seine Wand bohrte: ihr werdet ihn ständig in der Gegenwart Gottes antreffen, bei der Arbeit wir bei der Ruhe, immerzu darauf bedacht, sich kein Opfer entgehen zu lassen. Diese Wirkung und dieser Einfluss ist das Gesetz der Natur. Wovon lebt unser Leben, unser Organismus? Wir haben keine eherne Lunge und kein ehernes Herz. Alles ist in uns schwach und kraftlos. Und gerade diese Zartheit macht die Stärke unsers materiellen Lebens aus. Hätten wir Lungen stark wie Holz und ein Herz aus starren Knorpeln, dann könnten wir nicht leben. Für das geistliche Leben gilt das gleiche.
Möge Gott euch die Gnade schenken, diese Wahrheiten gut zu begreifen. In den ersten Zeiten sagte man mir oft: „Die Oblaten sind Heilige.“ Das sagt man mir heute nicht mehr. Ich mache nicht unsere Patres dafür verantwortlich, sondern sehe darin einen Beweggrund mehr, uns in diesem Geist zu verankern, die Eigenliebe kraftvoll zu überwinden, desgleichen die menschliche Rücksicht, die nichts ist als Feigheit. Man wird ihrer Herr unter der Bedingung, dass man sich über die anderen Menschen hinwegsetzt und vor allem das Böse überwindet.
Jeder von euch, meine Freunde, möge seinen Willen gründlich prüfen, bevor er sich am Tag der Profess verpflichtet. Dann aber, wenn einmal Professe ist, soll er sein ganzes Leben Novize bleiben. Er ist für den Menschen gut, sagt die Hl. Schrift, sich von Kindheit daran zu gewöhnen, das Joch zu tragen. Und ich füge hinzu: Bis in sein hohes Alter. Zwar ändern sich die äußeren Verpflichtungen, doch der Geist muss derselbe bleiben. Dann werdet ihr am Schluss mit dem hl. Paulus sagen können: „Bonum certamen certavi, cursum consummavi. In reliquo reposita mihi est corona iustitiae, quam reddet mihi in die iudicii iustus iudex, non solum mihi, sed et iis qui diligunt adventum eius.“ (Anm.: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt. Im Übrigen ist mir die Krone zurückgelegt, die mir der gerechte Richter am Tag des Gerichtes geben wird, nicht nur mir, sondern allen, die seine Ankunft lieben.“).
