Ansprachen

      

72. Ansprache zur Profess des P. Fourrier und dreier anderer Novizen zum Thema „Das Direktorium: Den Heiland wiedererstehen lassen“ am 03.01.1900

Meine Freunde, diese Tage erhielt ich einen Brief von P. Isenring, der in den USA lebt. Darin schreibt er: „Mein Vater, ich wünsche, dass Sie dieselbe Gnade erhalten mögen wie die selige Jungfrau im Stall von Bethlehem. Da bereitete sie ihren kleinen Oblaten auf sein Leben des Opferns und Predigens vor. Ich wünsche Ihnen, dass Gott Ihnen dieses Jahr alle nötigen Kräfte und Erleuchtungen schenke, dass er Ihre Seelsorge und alle Ihre Worte segnen möge, damit Sie Ihre kleinen Oblaten gut heranbilden können. Ist das nicht ein reizender Gedanke und höchst passender Wunsch für mich?“

In der Tat, warum hat Rom mit so viel Wohlwollen die Geburt unseres Oblateninstitutes genehmigt? Warum uns mit so viel Sorge und Behutsamkeit umgeben bei unseren so schwer geprüften und erschütterten Anfängen? Geschah es nicht in einer Absicht, die durchaus dem Wunsch des P. Isenring rechtfertigt? Warum diese neue Geburt? Weil die Kirche sich immer mehr dem göttlichen Meister nähert. Wollte man der jansenistischen Irrlehre glauben, ginge die Kirche ihrem Verfall entgegen. Welch ein totaler Schwachsinn! Gewiss waren die ersten Christen eifriger als viel heutigen Christen. Doch die Gnade, das Licht und das Leben, wie sie von der Krippe des Erlösers kommen, flossen sie früher wirklich reichlicher als heutzutage? Nein. Wenn die Gnade somit zunahm und das Licht wuchs, dann sind wir, die Erben dieses Fortschritts, auch besser befähigt, sie aufzunehmen und können sie den anderen reichlicher zumessen als in der Vergangenheit. „Christus heri, Christus hodie, ipse et in Saecula.“ (Anm.: „Christus gestern, Christus heute, Christus derselbe immerdar.“). Was haben wir also zu tun, um in der Absicht der hl. Kirche zu erfüllen? Wir haben uns mit Eifer an die Arbeit zu machen. Jawohl, wenn man uns in Rom angenommen hat, dann deshalb, weil man hoffte, die Oblaten würden mehr als ihre Vorgänger das Leben des Erlösers auf Erden verbreiten. Denn immer, wenn die Kirche einen neuen Orden zulässt, hat sie keine andere Absicht als diese.

Wir sind somit zur persönlichen Nachahmung unseres Herrn gehalten, in seiner Art und Weise mit den Seelen umzugehen, in seinen Beziehungen zum Vater, in seinem Denken und Schaffen und allem Handeln seines Lebens. Liebt darum unseren Herrn, liebt seinen Willen, wie er den seines Vaters liebte. Befolgt seine Befehle, wie er die seines Vaters befolgte. Studiert im Verein mit ihm… ja, studiert niemals allein, sondern immer mit ihm zusammen, der das Licht der Welt, die Intelligenz seines Vaters ist.

Aber vielleicht wendet ihr ein: „Einverstanden, dass wir so die Philosophie, die Theologie studieren. Doch die Mathematik, die Grammatik, die Sprachen…?“ Steht er denn all diesen Fächern fremd gegenüber? Ist er nicht ihr Inspirator und Schöpfer? Und wenn wir alle die Fortschritte der Naturwissenschaften unserer Zeit betrachten, muss man dann seinen Dank nicht auf Jesus ausweiten, das Licht der Welt?

Eure Studien sollten darum fromm und von Gebet begleitet sein! Wie wohltuend sie dann werden, wie viel sie uns Licht bringen! …

In unserem Direktorium finden wir das unfehlbare Geheimnis, dahin zu gelangen. Ich spreche häufig von unserem Direktorium. Aber ist es denn kein Meisterwerk der Theologie und Philosophie für die Leitung im übernatürlichen Leben? Wer hat vor Franz v. Sales so gesprochen? Niemand. Die großen Kirchenlehrer, Augustinus, Johannes Chrysostomos, Bernhard haben zwar diesen Weg adoptiert, wer hat ihn aber mit solcher Exaktheit und Fülle formuliert wie der Verfasser des „Traktates von der Gottesliebe“? Niemand. Geht darum mit eurem ganzen Herzen ans Studium und an die Praxis des Direktoriums.

Genügt das? Nein. Habt ihr schon einmal bei der Lektüre des Evangeliums überlegt, warum es sich in einer so einfachen, so vulgären Form, gestehen wir es uns ruhig ein, präsentiert in der Art zu unterrichten? Wie unser Herr doch den erhabensten und vollständigsten Moralkodex in die leichtfasslichste Form und gleichzeitig in unbestreitbare und unbestrittene Ausdrücke einschließt! … Jedermann kann diese Sprache verstehen. Wir Oblaten treten nun in einer Epoche des Christentums auf, wo drei Viertel der Menschen nicht mehr die primitivsten Elemente der christlichen Lehre kennen. Gleichen sie nicht den Menschen, die auch der Heiland zu bekehren hatte, deren Klagen er anhörte, und deren Zweifel er aufklärte?

Beachtet wohl, dass unser Herr bei seiner Predigt nicht streitet. Er stellt seine Lehren auf, und wenn man protestiert, trägt er von neuem seine Lehre mit unvermehrter Kraft und Genauigkeit vor. Was verlieh seiner Lehre aber diese Kraft und Macht? Die Salbung (Glut) und vor allem die Heiligkeit des göttlichen Meisters. Wenn wir wie unser predigen, dann haben unsere Worte auch dieselbe Macht wie er. Er hat es versprochen: „Qui credit in me, opera quae ego facio, ipse faciet et maiora horum faciet.“ (Anm.: „Wer an mich glaubt, wird die gleichen Werke tun wie ich, und ja noch größere.“). Durch das Direktorium werden wir dem Herrn ähnlich, erhalten Licht und Stärke, um die Wahrheit gebührend zu verkünden.

Ich möchte gut verstanden werden. Will ich etwa behaupten, man brauche nichts zu lesen und seine Theologie nicht gründlich zu studieren? Durchaus nicht. Als Grundlage jedes Studiums und jedes Unterrichts bedarf es einer sicheren Lehre und solider Prinzipien. Davon abgesehen ist aber das beste Mittel, unsere Zuhörerschaft zu überzeugen, dass wir persönlich heilig sind und unsere Verkündigung einfach vortragen, entsprechend dem Talent und der Befähigung unserer Zuhörer. Kein Streiten also, sondern ein einfacher, klarer und liebevoller Vortrag der Wahrheit tut not.

Darum hält die Kirche auch die Hand über uns. Darum müssen die Oblaten ihren Platz in der Kirche festhalten und sich möglichst genau ans Beispiel unseres Herrn halten, und das umso mehr, als in unserer Zeit die Finsternis dichter ist und die Krankheit energischere Heilmittel erfordert. Ihr aber, meine Freunde, die ihr die Kirche jetzt bittet, euch mit den sanften Banden des Ordenslebens zu fesseln, bittet den Herrn doch, euch auf diesen Weg zu führen und darauf voran gehen zu lassen, euch das Verständnis des Oblatentums zu vermitteln, das sich im göttlichen Dienst auf Leben und Tod hinopfert. Amen.