71. Ansprache zur Aufnahme ins Noviziat der Patres Braconnay, Arandel und Prevotat zum Thema „Der Mut des Oblaten“ am 28.09.1899
Meine Kinder, ihr werdet zwei Patrone für eure Hingabe haben: den Erzengel Michael und unsere Ehrwürdige Mutter Maria Salesia. Einige von euch haben gewünscht, diese Zeremonie soll heute stattfinden, weil sie ihren Glauben und ihr Vertrauen dem Erzengel Michael bekunden wollten. In der Tat schließen diese beiden Gestalten die ganze Idee der Kongregation der Oblaten ein.
Es gibt nach unserem hl. Stifter nicht, was uns stärker mit Gott verbindet als unsere Gelübde, und nur die starken und großmütigen Seelen vermögen sie zu tragen… Ich behaupte, dass in keiner Kongregation mehr Mut vonnöten ist als in unserer.
Ich hatte einmal einen Kartäuser zum Freund. Er war, bevor er in der Großen Kartause Novizenmeister wurde, mein Mitschüler im Seminar gewesen. Bei seinem Eintritt ins Kloster befand sich der junge Ordensmann sechs Jahre lang in einem Zustand unaussprechlicher Leiden. Er konnte nichts verdauen und hatte so starke Kopfschmerzen, dass er im bitterkalten Winter unter einen Brunnen hielt, um seine Schmerzen etwas zu lindern. Er hatte überdies so heftige Gichtbeschwerden, dass er selbst gestand, dass er nicht verstehen konnte. Die Ärzte erklärten eine Heilung für unmöglich. Sein Oberer sagte ihm: „Es tut mir leid, aber Sie können nicht bleiben…“ Er aber antwortete: „Ich habe es Gott verspochen, dass ich trotz allem hier bleibe. Ich überlasse es ihm, mich hier zu behalten.“
Und in der Tat ging es ihm nach 6 Jahren besser. Seine Gesundheit festigte sich und er wurde sogar stark. Dazu brauchte es aber Mut, meine Freunde. Ich weiß nicht, ob viele von uns dazu fähig wären. Nach diesen sechs Jahren konnte er die gemeinsamen Übungen mit solcher Pünktlichkeit aufnehmen, dass er das Vorbild und das Leben des Noviziates wurde.
Bei uns bedarf es des gleichen Mutes, denn bei uns dauert es nicht bloß sechs Jahre, sondern unser ganzes Leben. Wir haben eine Folge von vielfachen Übungen zu erledigen, die ohne Unterlass wiederkehren. Wir haben dieselben Gedanken zu hegen, dieselben Arbeiten zu erledigen, innerlich oder äußerlich. Immer dasselbe, und ununterbrochen lediglich von noch unangenehmeren Dingen, wie Prüfungen, Verdrießlichkeiten und Versuchungen…
Das ist unser Leben. Das ist unser Leben in einem Maße, dass der hl. Stifter uns sagt, wir sollten mit Frieden und Sanftmut des Geistes die Mühe und Abtötungen, die keiner unserer Übungen fehlen, ertragen.
Ist das ein müßiges Leben? Ein Leben ohne Sinn? Wer kann das übernehmen, der nicht mutigen und entschlossen diesen Weg gehen will? Dazu braucht es Stärke und Großmut. Mit gewissen modernen Systemen, die von Kleinmut und Feigheit geprägt sind, kommt man da nicht weiter. Hier heißt es stark bleiben in den Versuchungen, die uns von Seiten der Welt, von Seiten unseres Milieus und auch uns selbst kommen. Ja, stark bleiben heißt es da, um nicht in kleine Fehler zu fallen und nicht aus Schwächlichkeit und Furchtsamkeit gegen die hl. Regel zu verstoßen. Da ist uns der hl. Michael sehr von Nöten, denn nur mit Hilfe dieser Seelenstärke überwinden wir die vielen kleinen, unscheinbaren Schwierigkeiten eines jeden Augenblickes. Ja, wir müssen entschlossen, der Hl. Vater will es, in diesen heiligen Steinbruch unserer Berufung eintreten, ohne gegen die geringsten Vorschriften zu fehlen. Wenn wir dazu aber mehr Kraft brauchen als für strenges Fasten und Nachtwachen, dann wird der hl. Michael uns zu Hilfe kommen. Diese notwendige Stärke findet ihre Quelle und ihr Prinzip für uns im Geist der Guten Mutter. Etwas anderes mag vielleicht gut und vollkommen sein. Der Geist der Jesuiten ist eine ausgezeichnete Sache, er hat eine große Zahl zur Vollkommenheit geführt und wird es bis zum Ende der Tage tun. Wie viel heilige Seelen wurden vom Duft der hl. Theresia, eines Johannes vom Kreuz etc. angelockt! Warum sollten wir den lieben Gott einschränken wollen und ihn zwingen, seine Pläne zu ändern? Lassen wir ihn doch arbeiten und vergewaltigen wir die Seelen nicht, die auf diesem Weg vorangehen wollen!
Ich kann mir selbst das Zeugnis ausstellen, dass ich in meinen Beziehungen zu den Seelen niemals auch nur mit der Fingerspitze irgendeine andere Seelenführung oder einen Willen unterdrücken wollte. Im Gegenteil bin ich immer auf den Gedanken und die Meinungen eines jeden eingegangen… Wir sind nicht der Hl. Geist, und uns steht es nicht zu, seine Gnadenführung zu lenken. Ich spreche also nicht in einem Geist der Ausschließlichkeit, wenn ich den Weg der Guten Mutter empfehle, sondern aus dem einzigen Grund, weil es der eigene Weg ist. Wir sind zu nichts anderem fähig als zu dieser Lehre. Sie muss unser Denken, Handeln und unser ganzes Äußere prägen. Der Mann Gottes, der wir sind, soll das Bild und Gleichnis des göttlichen Erlösers darstellen, und unser Tun sollte mit dem seinigen so gleichwerden, dass man es von ihm nicht mehr unterscheiden kann.
Ich empfehle euch die Andacht und Verehrung der Guten Mutter. Nehmt ihre Lebensbeschreibung zur Hand. Sie sollte euer Führer sein. Durchdringt euch mit demselben Gedanken, der mich veranlasste, es zu schreiben. So und nicht anderes ist der Oblate, und das ist das Geheimnis seiner Macht, wie er sich selbst rettet und eine große Zahl anderer dazu.
In der letzten Zeit hat man versucht, diese Lehre zu verdunkeln und verdächtig zu machen… Ein schwieriges Beginnen, da es im Grunde nur die Lehre des hl. Franz v. Sales ist. Und seine Lehre war die des hl. Paulus und Johannes und damit das Wort unseres Herrn selbst, sein Gedanke und sein anbetungswürdiges Herz… Nach diesem Bild unseres göttlichen Erlösers haben wir uns folglich zu bilden, wie es der hl. Stifter und die Gute Mutter vorgezeichnet haben. Wenn wir so tun, erfüllen wir den Wunsch des Hl. Vaters. Ein Bischof, dessen Namen ich nicht nennen will, und der im Begriff ist, nach Rom zu reisen, hat mir durch seinen Sekretär mitteilen lassen, er wolle dem Hl. Vater ein Wort sagen, das „sein Herz erfreuen wird“, das sind seine eigenen Worte, „er, der Bischof trage in seinem Herzen eine tiefe Verehrung zur Guten Mutter und ein unbegrenztes Vertrauen in ihre Werke.“
Das ist unser Leben. Wenn wir in der Kirche Gottes etwas darstellen wollen, zurzeit stellen wir noch nicht viel dar, wohl aber später, dann nur, wenn wir dieses Programm verwirklicht haben. Erfüllt euch darum mit Vertrauen und Liebe zu allem, was mit der Guten Mutter in Zusammenhang steht. Das allein diene euch zur Führung eurer Seelen.
Der Tag wird kommen, wo die Versuchung über euch hereinbrechen wird. Dann werdet ihr mich fragen: Was habe ich getan? Auf welchen Weg habe ich mich eingelassen? Ich bin auf ihm ohne jedes Gefühl und Empfinden… Seid ihr an diesem schwierigen Punkt angekommen, dann schaut weder nach rechts noch nach links. Ergreift die Hand des Heilands, folgt seinen Spuren und seid sicher, dass nach dem Sturm das Licht und die Gnade zurückkehren werden… Das wird dann keine verlorene Zeit für euch gewesen sein. Ihr werdet dabei mehr profitiert haben als bei jeder anderen Gelegenheit eures Lebens.
Seid ihr tapfer und großmütig? Habt ihr ein Herz? Seid ihr fähig zu lieben? Dann könnt ihr Oblaten werden. Ohne das, nicht. Dann seid ihr nur ein toter Buchstabe. Ich wiederhole, was mir vor zwei, drei Tagen der Bischof von Nizza gesagt hat: „Oblate, was ist das? Wer war der erste Oblate? Das war unser Herr! ‚Oblatus est quia ipse voluit.‘ (Anm.: ‚Er wurde hingeopfert, weil er es selbst wollte.‘)…“ In der Krippe, zu Nazareth, auf Getsemani, am Kreuz opferte er sich. Auch jetzt opfert er sich ohne Unterlass weiter, zeigt Gott seine Wunden und tritt für uns ein…
Unser Herr war nicht eigentlich Ordensmann, aber er war Oblate, und das Leben eines Oblaten ist das, das mit dem Leben des Erlösers am innigsten vereint und ihm gleichgestaltet ist. In diesem Leben bleibt kein Augenblick übrig, der nicht Gott als Ganzopfer übergeben wäre in der Nachahmung des Erlösers.
Bittet Gott um Verständnis dieser Dinge! Welch eine herrliche Theologie! Wie sie den Horizont erweitert! War Franz v. Sales nicht der erste Theologe seines Jahrhunderts? Ist er nicht Kirchenlehrer? Ist es nicht seine Lehre, die im gegenwärtigen Augenblick sich anschickt zu regieren, die uns am besten die Verpflichtungen offenbart, die uns das Gebet Gottes auferlegt, die ganze Tragweite seiner Mysterien aufzeigt? Hier finden wir die Worte unseres Herrn selbst wieder, die uns aufleuchten. Sein Beispiel, das uns aufrecht hält.
So lasst uns heute den Vorsatz fassen, starkmütig und energisch zu sein und Schritt für Schritt den Weg gehen, den uns das Direktorium lehrt. Denn das Direktorium ist die Gegenwart Gottes, das Aufmerken auf seinen augenblicklichen Willen und auf seine Liebe. Wenn wir das Direktorium leben, haben wir eine ungeheure Garantie, sind wir sicher, nicht allein da zustehen, und nicht aufs Geratewohl voranzugehen. Man muss das nur wollen und sich mit ganzem Herzen drangeben. Tut ihr das, meine Freunde, dann kann man euch heiligsprechem, denn das ist der Höhepunkt der Vollkommenheit, ich übertreibe nicht. Ihr würdet mir ohne weiteres glauben, wenn ihr wie ich vierzig Jahre hindurch die Wirkungen des Direktoriums in den Seelen beobachtet hättet. Seine „Menschwerdung“ gleichsam in der Guten Mutter und vielen anderen… im Pfarrer Beaussier z.B., den man den Seraph des Priestertums genannt hat. Was verlieh diesem Pfarrer so viel Macht über die Seelen und über Gott? Das Direktorium war es, das er mit einer unvergleichlichen Treuherzigkeit und Einfachheit praktizierte.
Wir fassen zusammen: Wir brauchen ebenso viel Mut und Hochherzigkeit und selbst mehr davon als zum Blutzeugnis, denn das Martyrium dauert nicht lange. Man hat viele Menschen mühsame Abtötungen und lange Leiden ertragen gesehen, ohne zu versagen. Wie wenig treue Seelen aber sah man, die ohne Unterbrechung von Gott abhingen? Die kann man zählen, diese Praktikanten des Direktoriums. Was ich da behaupte, habe ich gehört und gesehen… Ich suche nach in meinen Erinnerungen und Studien, in meiner Lektüre: Ich habe nichts gefunden, was das Direktorium an Wert übertrifft.
Jawohl, es ist der kürzeste Weg, zu Gott zu kommen. Lassen wir uns darum auf ihn mit allem Eifer ein. Wenn dann für uns die Stunde der Heimsuchung zu Ende sein wird, wird sich das Tor des Himmels zu unserem Empfang auftun. Amen.
