67. Ansprache zur Profess von P. Boisson und P. Blanc zum Thema „Die Gelübde der Oblaten“ am 13.03.1899
Meine Freunde, ihr wollt einen großen Akt vollbringen, die Weihe eurer Seele an Gott durch die Ordensgelübde, die man seit Beginn der Kirche immer als einen Akt großer Wichtigkeit betrachtet hat.
In der Stunde, in der wir leben, beim Zustand der Geister und in Anbetracht der aktuellen Ereignisse hat solch eine Tat große Tragweite. Heutzutage ist der christliche Sinn bei den Menschen dermaßen geschwächt, dass sie von den Dingen der Religion keine Ahnung mehr haben. Das Wort Gottes bleibt ungeachtet oder wird zu einem Zeichen des Widerspruchs, des Tadels und der Verachtung bei den Massen. Darum hat der Papst soeben in einem feierlichen Akt die Vortrefflichkeit der Ordensgelübde und die Übung der evangelischen Räte proklamiert. Gewiss kann man Gutes tun, wenn man im Geleise der gewöhnlichen Wege dahingeht. Die Beobachtung der klösterlichen Gelübde verleiht jedoch der Seele eine besondere Vitalität und dem Herzen ungewöhnliche Gnaden und Kräfte.
Der Hl. Vater sagte uns in seiner Audienz: „Ordensleute sind nötig zur Belehrung der Welt. Gewiss besitzt die Kirche in ihrer Verfassung alles Nötige, um die Welt zu bekehren. Die Gnade beschränkt sich nicht auf die persönlichen Dispositionen der Diener der Kirche. Ob sie Taufe spenden oder die hl. Kommunion austeilen, die Wirkung tritt ein, mag der Seelenzustand der Spender wie immer beschaffen sein. Mit ihrem Gewissen haften sie natürlich im Rahmen ihrer persönlichen Verantwortung. Das Resultat wird dadurch nicht berührt. Der Priester ist sozusagen das Werkzeug, das aus sich nichts hervorbringt, sondern sich darauf beschränkt, die ihm bestimmte Wirkung zu produzieren.
Nun, heutzutage genügt das nicht mehr. Zur Kraft des Sakramentes muss der Diener seine eigenen Verdienste hinzufügen, damit er die Absichten unseres Herrn verwirklicht. Wenn du vollkommen sein willst, gehe hin, verkaufe alles, was du hast und gebe es den Armen. Dann komm und folge mir nach! – Selig die Armen im Geiste. Sie werden die Segnungen dieser Zeit und die Glorie der Ewigkeit besitzen…“
Seht, meine Freunde, das werdet ihr heute erbitten. Um als Diener des Altars auf der Höhe eurer Aufgaben zu stehen, nehmt ihr den Erlöser zum Vorbild und werdet wie er arm, keusch und gehorsam.
Schwächt diesen Gedanken und diese Überzeugung nicht ab durch Untreue, mangelnden Mut und fehlende Energie. Nährt sie vielmehr durch Akte der Großmut, gebt euch ganz dem Willen Gottes hin, nehmt alles an aus der Hand Gottes, seine Geheimnisse der Freude wie des Leidens. Das ist unsere Sendung. Unser hl. Stifter hat sie uns formell übergeben, die Gute Mutter uns deren Anwendung mit täglich neu bestätigter Autorität hinterlassen. Noch vor kurzem sagte der Kardinalvikar Parocchi zu Pater Rollin: „Zögern Sie nicht, ihre Ansprachen drucken zu lassen. Das Gegenteil hieße die Kirche eines wertvollen Schatzes berauben.“
Wer aber soll diesen Dienst erfüllen? Wir, die Kinder des hl. Franz v. Sales, und sonst niemand! Warum das? Weil uns die Lebensregel hierfür übergeben wurde. Unsere Lebensweise ist keine Lektion spekulativer Theologie. Wozu würde sie uns aber nützen, wenn wir daraus keinen Nutzen ziehen? … Es handelt sich hier um eine eminent praktische Theologie.
Was ich euch da sage, ist stark, nicht wahr? Ich sage es aber im Angesicht der hl. Kirche, im Angesicht unseres Herrn und des Hl. Vaters. Das ist eine allesübertreffende Berufung, die nur den sehr Begünstigten vorbehalten bleibt, den Gesegneten des Vaters. Darauf lasst also ihr euch heute ein…
Erfüllt ihr eure Mission aber schlecht, wer soll dann euer Unrecht gutmachen? Zur gegenwärtigen Stunde findet sich nirgendwo eine Weihe unter ähnlichen Bedingungen. Seid ihr also außerordentliche Wesen? Das nicht. Als unser Herr am See Genezareth entlang ging und einfachen Männern begegnete, die aber gelehrig waren, sagte er zu ihnen: „Lasst eure Netze da liegen und folget mir!“ In den Augen der Welt gibt es nichts Ungeeigneteres als arme und unwissende Fischer, solch eine Mission auszuführen. Und doch setzt Gott gerade sie an die Spitze seiner Kirche, und sie gründen ein unsterbliches Werk… Darum werdet angesichts eurer geistlichen Schwächen und Erbärmlichkeiten nicht mutlos. Gebt Gott Herzen hin, die von den gleichen Gesinnungen wie das seine erfüllt sind. Dann könnt ihr eure Sendung erfüllen.
Das habe ich zu jeder Zeit sagen müssen. Nie aber habe ich so viele Beweggründe gehabt, darauf zu bestehen, nie in den Zeitumständen so viel Bestätigung gefunden. Sammelt darum all euere Seelenkräfte und bittet den Heiland, er möge euch in überfließendem Maße von diesem übernatürlichen Leben mitteilen. Setzt euer Noviziat fort. Sein Einfluss muss weiter auf euren Willen einwirken, in seiner Atmosphäre solltet ihr weiterhin leben. Verkostet die Eindrücke, die man in dieser heiligen Einsamkeit empfindet, fahrt mit den Übungen des Direktoriums fort und übernehmt und tragt unverdrossen und freudigen Herzens die Last eurer Gelübde.
Für euch genügt der strikte kanonische Gehorsam nicht. Euch tut ein liebender Gehorsam not. Mit einem mechanischen Gehorsam begeht man zwar eine Sünde, wird aber auch nicht heilig. Auch die Keuschheit besteht nicht im Fehlen des Bösen. Sie macht vielmehr uns geneigt, unser Herz auf Gott hin zu ordnen. Das lernt man im Allgemeinen nicht im Seminar. Und doch: „Deus charitas est.“ (Anm.: „Gott ist [die] Liebe.“). Da die Liebe somit das innerste Leben Gottes ausmacht, muss sie auch das Herz des christlichen Lebens und vor allem des Ordenslebens sein: eine ununterbrochene Kette von Liebesakten gegenüber Gott. Viele meinen, das sei eine Gefühlssache. Für uns, meine Freunde, besteht die Liebe in der Treue zu Gott, im Wohlgefallen und der herzlichen Unterwerfung unter die Ereignisse, die Gott uns schickt oder zulässt. Auch die Armut verpflichtet uns nicht, wie der Kapuziner barfuß zu gehen, von Almosen zu leben uns härtesten Bußübungen zu unterziehen. Nein: „Beati pauperes spiritu.“ (Anm.: „Selig die Armen im Geiste.“), d.h. gerne eine Soutane tragen, die nicht neu ist, etwas vermissen, wie Arme behandelt werden. Welch eine ungeheure Gabe, welche Seelengröße, ein Blatt Papier oder eine Feder zu sparen! Die große hl. Theresia (von Avila, d. Bearb.) sammelt die Linsen in den Spalten des Küchenbodens. „Aber das ist doch eine Kleinigkeit!“ Oh nein, das ist ein Akt, der sie berechtigt, an der verheißenen Glückseligkeit des Himmels teilzuhaben. Liebt darum die hl. Armut! Wieviel heilige und vollkommene Akte kann man verrichten und wieviel Verdienste sammeln mit Hilfe solcher Kleinigkeiten!
Das sind heldenmütige Kleinigkeiten! Im Leben von Weltleuten findet sich nichts Vergleichbares, weil darin nichts so vieles an Großherzigkeit und Würde einschließt.
Das also bedeuten eure Gelübde! Erfüllt sie, den Blick geheftet auf euer göttliches Vorbild, das Herz von Liebe zu seinigen glühend. Wie schön ist es doch, arm zu sein wie unser Heiland, Ähren zu zerreiben am Weg, um den Hunger zu stillen. Wie schön, wenn man erschöpft von Durst sich auf den Rand des Brunnens setzt und auf eine arme Seele wartet, die kommt, um anschließend zu ihren Landsleuten zu sagen: „Numquid ipse est Christus.“ (Anm.: „Ob er nicht der Messias ist?“)? Kein Zweifel, das ist wirklich der Christus, der Gesalbte! Setzt euer Vertrauen nicht auf großartige Unternehmungen, auf die Früchte der menschlichen Freiheit, des Genies oder der persönlichen Aktivität! Alles Strohfeuer… Es ist schon lange her, dass der hl. Paulus verkündet hat: „Et si habuero prophetiam. Et distribuero in cibos pauperum omnes facultates meas, charitatem autem non habuero, nihil sum. Nihil mihi prodest.“ (Anm.: „Wenn ich die Gabe der Prophezeiung hätte und all meine Habe den Armen zur Speise hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts, würde es mir nichts nützen.“). Versteht das wohl! Was den äußeren Seeleneifer hervorbringt, ist bei Bischof Simon gerade dieser innere Geist, von dem ich da spreche. Weil er unseren Ordensweg geht, hat er da etwa seinen apostolischen Eifer abnehmen gefühlt? Oh, die armselige kleine Intelligenz des Menschen, wenn sie sich nicht verbindet mit der Intelligenz Gottes!
Seid also Oblaten und werdet zu diesem Zweck so, wie der hl. Stifter die treue Seele beschreibt! Bleibt in den Grenzen der Lehre der Guten Mutter und der Ermahnungen, die ich euch erteile. Dann wird Gott euch als wahre Oblaten erkennen, und die Seelen werden euch anerkennen, weil sie in euch Gott selbst spüren. Und dieser Eindruck wird nicht vergessen auf dieser Erde und noch weniger in der ewigen Glückseligkeit.
Gehet also hin, und an einem nicht fernen Tag – das Leben schwindet ja so rasch dahin – werdet ihr von hinnen scheiden in Begleitung von Seelen, die in Ewigkeit mit euch den Herrn preisen werden und die euch, nach Gott, ihr ewiges Glück verdanken.
Amen.
