Ansprachen

      

66. Ansprache zum Thema „Bedingungen, um das Wort Gottes zu verkünden“ anlässlich der Profess der Patres Ham, Cornelius von Westeynde und Giraudet, am 08.12.1898.

Liebe Freunde, eine Zeremonie, die unsere Lebenslage verändert, uns neue Pflichten auferlegt und uns besondere Rechte verleiht, ist sicher eine wichtige Sache. Und das wollen wir heute Abend tun.

Ihr wollt Ordensleute werden, d.h. gottgeweihte Männer, die sich ausschließlich dem Heil der Menschen verschreiben, die sich nicht nur darum mühen, Seelen zu retten, sondern eine Höchstzahl von Seelen zu gewinnen. Die Gott nicht nur alle Tage ihres Lebens ehren und ihm dienen, sondern alle Augenblicke eines jeden Lebenstages dazu verwenden. Um dahin zu gelangen, muss unsere Seele einen Hang, einen Zug, ein starkes Verlangen in sich tragen, andernfalls wäre es eine Selbsttäuschung, ein Unglück, da ihr euch ja auf ernste Verpflichtungen einlassen würdet, denen ihr nicht gerecht werden könntet.

Was euch betrifft, so bin ich überzeugt, dass ihr zu diesem Akt heute alle notwendigen Dispositionen mitbringt. Diese inneren Dispositionen sind zahlreich, so zahlreich, dass ich sie diesen Abend nicht alle auseinanderlegen kann. Ich will mich begnügen, euch an eine einzige zu erinnern.

Unser Hl. Vater Papst Leo XIII. hat soeben an die Franziskaner einen Brief geschrieben, wo er ihnen empfiehlt, all ihre Sorgfalt darauf zu verwenden, dem Volk das Wort Gottes zu verkünden. Um das zu können, sind, so sagt er, verschiedene Bedingungen zu erfüllen:

1. die Personen und die Sache kennen.
2. die Theologie und die Hl. Schrift gründlich beherrschen.
3. die Regeln der Redekunst hinreichend beherrschen und
4. die Heiligkeit des Lebens besitzen, weil das Wort, das nicht aus dem Grund des Herzens kommt und nicht von der Gottesliebe eingegeben ist, verloren und unnütz ist, und Ordensleute gehalten sind, Gott mehr als die übrigen Menschen, ja sogar mehr als die Weltpriester zu lieben.

Das Noviziat ist nun die Vorbereitung auf all dieses. Bleibt also nicht bloß Schüler, Studenten oder Seminaristen. Von euch erwartet man mehr. Wie der Hl. Vater betont, muss man es lernen, die Menschen und die Dinge zu kennen. Zu diesem Zweck müsst ihr erfüllt sein von persönlicher Würde und gegenseitiger Liebe, die in euren Beziehungen Hochachtung und Zuvorkommenheit vorherrschen lässt und euch den Weg zu den Herzen und Gewissen öffnet. Betrachtet die Dinge nicht wie die Kinder, sondern sucht aus allem nützliche Lehren zu ziehen. Eine Gesellschaft von zwanzig Menschen umfasst im Allgemeinen die Summe aller Charaktere, die möglich sind. Standpunkte, Fähigkeiten, wie sie am häufigsten auftreten. Der eine ist begabt, der andere tut sich schwerer. Der eine hat eine mehr herbe und ernste Gemütsveranlagung, der andere ist fröhlich und angenehm. Ihr habt über eure Mitbrüder nicht zu urteilen, sondern profitiert von diesen Umständen, um sie zu studieren. Sagt euch: „Müsste ich einen Menschen von dieser Gemütsart gewinnen, welche Mittel müsste ich da anwenden? Befände ich mich in dieser oder jener Schwierigkeit, wie würde ich damit fertig?“ So heißt es Menschen und Verhältnisse studieren!

Das ist eure Aufgabe, solange ihr im Noviziat seid, nicht, um euch da Beschäftigungen zu unterwerfen, die ihr am Ende dieses Jahres wieder abschüttelt. Ihr seid vielmehr im Noviziat, um euren inneren Schatz zu bereichern und euch für die künftige Sendung fähig zu machen. Profitiert von eurem Zusammenleben, es hat nur diesen einen Sinn. Anderenfalls bliebet ihr Einsiedler, selbst in Gesellschaft eurer Lehrer und Bücher.

Wie sollt ihr dieses Menschenstudium vornehmen? In aller Liebe!
Sagt nicht: „Der da handelt nicht nach meiner Art und Weise. Er liegt mir nicht.“ Nein, vielleicht ist er besser als du. Versteht er seine Pflichten nicht wie du, nimm ihn, wie er ist, und behandle ihn mit aller möglichen Freundlichkeit. Achte sein Temperament, seine Manieren. So gewinnt ihr alle für unseren Herrn. Handelt nicht leichtsinnig, unüberlegt, und ohne gesundes Urteil. Nehmt Rücksicht auf die Gewohnheiten, Neigungen und Sitten eines jeden. Wenn ihr zu einem Soldaten sprecht, könnt ihr es nicht tun, als wäre er ein junges Mädchen. Zu einer Nonne nicht wie zu einer Weltdame, zu einem Kind nicht wie zu einem Erwachsenen. Berücksichtigt dies alles und gebt Acht auf alles, was gesagt und getan wird. Fügt es dem Schatz eurer Erfahrung bei. Alles hat seine Bedeutung, seine Wirkung, sein Interesse, vernachlässigt nichts!

Man muss seine Theologie kennen. Ich will darauf nicht eingehen. Darüber könnt ihr natürlich nicht aus eigenem Wissen sprechen. Nicht ihr könnt Glaubenslehre und Glaubensgeheimnisse interpretieren. Darum müsst ihr die Hl. Schrift und das Evangelium gründlich studieren und sie auswendig lernen, ihre Erklärung kennen, und vor allem: sie lieben, damit ihr auch andern Liebe zu ihr einflößen könnt. Diese Tage schilderte mir Herr Foin ein Beispiel von der Wirkung der Hl. Schrift in der Predigt. In der Kathedrale zu Troyes war ein Pfarrer, Abbé Merger angestellt, dessen Kaplan H. Foin war. Der Dompfarrer selbst verfügte über keine besondere Beredsamkeit. Kam ein fremder Pfarrer oder Kaplan und predigte im Dom, so hörte man ihm deshalb gerne zu. Sprach aber der Pfarrer Merger selbst, dann war alles gerührt, und mehr als einer weinte. Man spürte in ihm einen Mann, der Gott und die Seelen seiner Pfarrkinder lieb hatte, der das Glück und die Heiligung aller wünschte. Er bediente sich zu diesem Zweck nur des Evangeliums. Er sprach nur von unserem Herrn. Man verstand ihn und alle Herzen schlugen ihm zu… Woher dieser Erfolg? Weil er zu den genannten Eigenschaften noch eine weitere hinzufügte: die Heiligkeit seines Lebens. Denn nur aufgrund persönlicher Heiligkeit wird unser Wort Leben und Wirkung ausstrahlen. Es wird wie Balsam betrübte Herzen trösten, den Verstand derer erleuchten, die nicht sehen und nicht begreifen. Werdet darum erst selber heilig, um den anderen sagen zu können, welche die Wege der Heiligkeit sind und wie man dahin gelangt. Was sagt der hl. Johannes am Anfang seines Evangeliums? „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Welt.“ Das Licht schenkt uns also Leben, und um das wahre Licht zu haben, muss unser Leben heilig sein. Dann können wir die Seelen viel wirksamer anrühren als mithilfe schöner Lesungen.

Das ist es, was uns Licht verschafft, die Treue, um die Versuchungen zu besiegen. Die Reinheit des Herzens, die uns ein unvergleichliches Wissen über Gott verschafft, das durch nichts zu ersetzen ist. Lasst uns darum das Wort des Hl. Vaters über die Predigt hochschätzen. Nach einer alten Prophezeiung ist Papst Leo XIII. „lumen in coelo“. (Anm.: „das Licht, das vom Himmel kommt.“). Lasst euch am Tag eurer Einkleidung, eures Eintritts in das Noviziat und eurer Profess auf diesen Weg ein in der Überzeugung, dass man, um euch zu folgen, weniger auf eure schönen Worte hört als auf die Heiligkeit eures Lebens.

Und jetzt kommt zum Altar des Herrn und gebt euch ihm hin, gebt ihm gleichzeitig all jene, die ihr liebt auf dieser Erde. Übergebt ihm eure Eltern, eure Familie…

Dieses große Opfer schließt nach dem Gedanken unseres hl. Stifters und der Guten Mutter nicht die Vernachlässigung und das Vergessen eurer Familie und derer ein, die ihr lieb habt. O, nein, Gott will, dass wir sie zehnmal, ja, hundertmal mehr lieb haben sollen, weil die natürliche Liebe gereinigt, geheiligt und vergöttlicht wird.

Mögen die Gute Mutter und der hl. Stifter euch vom Himmel aus segnen und eure Versprechungen und Gelöbnisse entgegennehmen. Folget nach ihrem Beispiel dem Lamm, wohin immer es euch ruft, damit ihr zu guter Letzt da oben das ewige „Halleluja“ anstimmen könnt in einer Glückseligkeit ohne Ende, in den Verzückungen jenes göttlichen Glückes, das der Lohn unserer Treue sein wird. Amen.