Ansprachen

      

58. Ansprache anlässlich der kanonischen Visitation im „Kleinen Kolleg“ zu Troyes im Jahr 1897.

Vor der Visitation.

Meine Freunde, die Visitation, die wir jetzt vornehmen wollen und die die erste Art ist, verdient unsere ganze Aufmerksamkeit, euren ganzen guten Willen und Hingabe.

Eure Situation hier gewinnt an Bedeutung, da wir beschlossen haben, dass der Mittelpunkt der Kommunität künftig im Kleinen Kolleg liegen soll.

Die Gründe für diesen Entschluss sind leicht zu begreifen. Zunächst, weil das Kleine Kolleg sich mitten in der Stadt befindet, und, wer mit unserer Kommunität zu tun hat, natürlich leichter dorthin geht als nach St. Bernhard. Sodann, weil das Kleine Kolleg sich leichter in zwei verschiedene Teile aufteilen lässt, ins Kolleg und in die Ordensgemeinde, während in St. Bernhard die Schüler, aber auch die weltlichen Hilfslehrer viel zahlreicher sind und dadurch eine klare Zweiteilung durchführen lässt.

Die Visitation, die ich jetzt vornehmen will, hat drei Ziele: In religiöser Hinsicht soll jedermann dieselbe geistliche Leitung erhalten und das Direktorium sowie das Gebräuchebuch zu befolgen haben. Das Kleine Kolleg wird seine Professoren haben, die Handelsschule ihre Leitung und ihre Lehrer. Die Ordensgemeinde wird ihre Organisation haben und ihr klösterliches Leben durchführen können. Mein Vertreter hier soll P. Deshaires, unser Generalassistent, sein. Darum wird der Mittelpunkt unserer Ordensgemeinschaft hier sehr gut liegen.

Nun kommt es darauf an, dass jedermann sein Möglichstet tu, um die klösterliche Disziplin sicherzustellen. Seit bald 30 Jahren machen wir die Erfahrung, dass außerhalb des klösterlichen Lebens nichts für uns Bestand hat, alles zusammenbricht… An dem Tag, wo wir gute Söhne des hl. Franz v. Sales und der Guten Mutter sind, und auch ein bisschen meinen, werden, die Segnungen Gottes, der Tau des Himmels und auch das Fett der Erde unser Anteil sein. Unser Herr hat es verheißen, die Gute Mutter es versprochen… Tun wir also unser Bestes, um gute Ordensleute zu werden. Beobachten wir treu, was zu unserem Pflichtenkreis gehört. Jeder gehe voran auf den Wegen der Liebe und halte sich an alle Vorschriften, die den Frieden auf ein Haus ziehen.

Ich verlasse mich also fest darauf, dass jeder ein ganzer Oblate des hl. Franz v. Sales wird und wünsche dringend, dass jeder sich eifrig daran mache. Meine Freunde, es darf nicht sein, dass wir nur halbe Menschen sind.

Wenn ihr halb Ordensmann und halb nachlässig seid, was stellt ihr dann schon vor? Nichts! Ich habe jemand zehnmal lieber, der vielleicht eine ganz entfaltete Intelligenz hat, dafür aber sich vorbehaltlos seiner Arbeit hingibt. Der hl. Thomas hat gesagt: „Timeo hominem unius libri.“ (Anm.: „Ich fürchte mich vor einem Menschen, der nur ein Buch kennt.“). Mir scheint, man könnte ebenso gut sagen: „Timeo hominem unius operis.“ (Anm.: „Ich fürchte mich vor dem Menschen, der nur eine einzige Arbeit kennt.“)… Wenn er kann, so sei er stark und energisch. Dann wird er zu hervorragenden Resultaten kommen. Das ist das große Prinzip.

Macht euch also ungeteilten Herzens an eure Aufgabe. Wenn ihr wie ein Omelette in der Bratpfanne seid… ein Stückchen Eiweiß hier, ein Stückchen Eigelb dort… Wenn ihr so formlos ausgegossen seid, stellt ihr nichts dar. Konzentriert euch vielmehr eure Energie und Willenskraft auf einen Punkt, dann schafft ihr etwas, ja ihr erreicht sogar viel, mit der Gnade Gottes alles.

Ich werde bei der Visitation jeden von euch gesondert empfangen. Jeder von euch möge:

1. über sich selbst Schlechtes aussagen.
2. auch ein bisschen Gutes hinzufügen.
3. sagen, was ihr tut.
4. euer Verhältnis zum Nächsten schildern.
5. sagen, was euch in der Kommunität mehr oder weniger „regulär“ (d.h. der Ordensregel entsprechend) erscheint: Man tut dies, man tut das. Diese „man“ (d.h. reden über andere) soll man also auch vorbringen, nur soll es voller Liebe geschehen. „Memor sit conditionis suae“ (Anm.: „Er sei seiner eigenen Schwäche eingedenk.“), sagt das Pontifikale. Einem danach fragenden Oberen seine Gedanken über den Nächsten anvertrauen, ist kein Verstoß gegen die Liebe, da es zu seinem größten Nutzen ausschlägt. Ja es ist der höchste Akt der Liebe, den man ihm erweisen kann.

Wir beginnen heute, und jeder gebe sich mit ganzem Herzen daran. Der hl. Stifter pflegte zu sagen, man müsse seine Pflicht leidenschaftlich gut verrichten. Es genügt also nicht, zu sagen: Ich will gern dieses oder das tun, sondern darum geht es: Ich will alles gut, ja leidenschaftlich gut verrichten.

Nach der kanonischen Visitation.

Jeder möge einen festen Vorsatz fassen bezüglich der Fehler, die er in sich selber festgestellt oder auf die man aufmerksam gemacht hat, damit wir ein wahrhaft besonnenes Jahr beginnen. Hat man eine große Summe Geldes zu zahlen, legt man sorgsam alle seine kleinen Ersparnisse zur Seite, alles, was man erübrigen kann. So sollte man es auch im klösterlichen Leben machen. Jeder achte darauf, dass er in den Übungen der hl. Regel die Hilfen und Gnaden entdeckt, die Gott in sie hineingelegt hat. Nichts von all dem sollten wir vergeuden, was wir von Seiten unserer Schüler, infolge der Versuchungen, in unserem Amt, im Umgang mit dem Nächsten zu leiden haben. Fassen wir darum den entsprechenden Vorsatz, denn wir heiligen uns nur mit Hilfe dessen, was in unserer Reichweite liegt. Im Kleinen Kolleg glaubte man sich seit langer Zeit nicht allzu sehr verpflichtet, die hl. Regel, die klösterliche Observanz zu verwirklichen. Und speziell in diesem Augenblick scheint es, dass man dort nicht besonders dass Stillschweigen hält… Man schwätzt allzu gern, selbst während des großen Stillschweigens… Es ist notwendig, dass dies in Zukunft anders wird.

In unseren Unterhaltungen heißt es achtgeben auf Fehler gegen die Liebe. Ich lade euch dringend ein, Gott zu versprechen, nicht gegen die Bruderliebe zu verstoßen, und wenn möglich während einiger Zeit das Gelübde der Nächstenliebe abzulegen. Meidet sorgfältig alles, was den guten Ruf dieses oder jenes mindern und was die Herzen von ihm abwenden könnte.

Ich weise ganz allgemein auf die Beobachtung der hl. Regel und der Satzungen hin, jetzt, wo sie uns von Rom approbiert zurückgeschickt wurden. Geben wir uns ihnen mit ganzem Eifer hin! Wir sind keine Ordensleute, wenn wir sie nicht halten. Da fällt mir ein kleines Rechenexempel ein:
Was ist jeder von uns wert? Mindestens eine Einheit. Andere können vielleicht zwei, drei oder vier Einheiten wert sein. Wählt für euch selbst irgendeine Zahl, die euch gut dünkt, und setzt vor euren Namen die Ziffer der hl. Regel, dann werdet ihr erfahren, dass euer Wert verzehnfacht wird im natürlichen wie im übernatürlichen Bereich. Macht euch daran, die hl. Regel zu üben, dann werdet ihr erleben, wie sich eure Kräfte verzehnfachen.

Nehmt es tief in euch auf, was ich euch da rate, ich sage es zu eurem Nutzen, für eure Heiligung und auch für euren Einfluss. Einer von euch sagte mir unlängst: Ich stelle immer fest, wenn ich mein Direktorium gut halte und ein guter Ordensmann bin, klappt alles, meine Schüler hören auf mich es geht vorwärts in der Klasse. Begehe ich aber Fehler gegen die hl. Regel, klappt nichts mehr… Er hat recht. Das Verhalten unserer Schüler hängt nicht so sehr von den Schülern selbst ab, als von eurer persönlichen Verhaltensweise. Glaubt meinen Worten und glaubt es mit einem festen und tiefen Glauben.

Eines Tages machte mir ein Jesuitenpater folgende Bemerkung: Unser P. Lavigne, der bei uns einen hohen Ruf genoss und über großen Einfluss verfügte, hat uns verlassen. Damit schwand auch alles Übrige… So ist es, meine Freunde, wenn ihr mit der Kongregation fest verbunden bleibt, verzehnfacht ihr eure Talente, euren Einfluss, selbst eure Tugenden. Immer, wenn ihr zu euren persönlichen Fähigkeiten noch die Stütze des Ordensstandes hinzufügt, welch guten Erfolg das zeitigt.

Wie gern möchte ich euch diesen Glauben und diese Überzeugung einimpfen. Dass ihr doch dies alles begreift! Ich glaube, euer Haus hier könnte tatsächlich „domus princeps“ (Anm.: „Der Hauptsitz“) dank eurer treuen Observanz werden, wie es das bereits dadurch ist, dass es der Hauptsitz der Kommunität von Troyes ist. Unter dieser Bedingung wird es gedeihen… Der Beweis dafür ist leicht zu erbringen: ist es nicht wahr, dass in der Vergangenheit, wenn man kein echter Ordensmann war, alles mit mehr oder weniger Getöse zusammenbrach, alles in Schutt und Asche fiel?

Nehmen wir uns darum vor, uns mit ganzer Seele unserer Sache hinzugeben. Jeder möge so klug und gerecht sein, seine Pflicht zu tun und den Mitbrüdern zu helfen, die ihre zu tun. Ich empfehle euch besonders das Stillschweigen, die Nächstenliebe und die Abtötung. Ich weiß sehr wohl, dass es immer hapern wird. Dennoch wollen wir uns mit ganzem Einsatz an die Arbeit machen.

Ich will für euch beten, und ihr betet für mich. Wir wollen auf die Gedanken der Guten Mutter eingehen. Wie schön wird das werden, wie großartig! So sagte sie zu mir auf ihrem Sterbebett. „Aber, Gute Mutter“, warf ich ein, „bis jetzt merke ich nichts von diesem Schönen und Großen! Woran liegt das? An Dir? An uns?...“ Ja, es liegt an uns. Fangen wir darum dieses neue Schuljahr gut an, suchen wir das, was die Gute Mutter so sehr wünschte, zu verwirklichen. Sie wird uns dabei helfen.