57. Ansprachen des Gründers (= P. Louis Brisson) vor und nach der kanonischen Visitation am 29.09.1897.
1. Vor der Visitation.
Meine lieben Freunde, um alle Bedingungen zu erfüllen und allen Forderungen der hl. Regel zu genügen, halten wir heute zum ersten Mal die kanonische Visitation. Was wir heute tun, soll alle Jahre in sämtlichen Häusern der Kongregation mit dem gleichen Zeremoniell und den gleichen Umständen wie heute getan werden. Es ist sicher, um die Wirkung hervorzurufen, für die die hl. Kirche ein Werk eingesetzt hat, muss dieses Werk dieselben Mittel anwenden, die ihm von den Satzungen zugewiesen werden, aller Vollmachten teilhaft werden, die es von der Kirche erhalten hat, und alle Gnaden empfangen, die der Hl. Geist ihm gewährt. Jeder von uns möge darum sein Möglichstes tun, und jede Vorschrift der hl. Regel zu erfüllen.
Die kanonische Visitation.
Sie ist sehr notwendig, um den Ordensgeist zu erhalten. Sie besteht in allen religiösen Orden. Bei den Kartäusern sieht man auf allen Mauern einen lateinischen Vers geschrieben, der besagt, dass der Kartäuser mithilfe der Einsamkeit, des Schweigens und der Visitation immer treu bleibt:
„So-si-vi Carthusianus manet in vi.“ (Anm.: „solitudine, silentio, visitatione… durch die Einsamkeit, das Schweigen und die Visitation bleibt der Kartäuser stark.“). Beim Generalkapitel von 1894 haben wir dieselbe Losung übernommen, indem wir folgende Worte geändert haben:
„Di-car-vi fidens Oblatus permanet in vi“: „Durch das Direktorium, die Nächstenliebe und die Visitation erhält sich der treue Oblate in der Kraft und Energie seiner Ordensgründung.“
Wie soll die kanonische Visitation vor sich gehen? Man singt gemeinsam das „Veni creator spiritus“ (Anm.: „Komm, Schöpfer Geist.“) bei der Ankunft des Ordensgenerals oder seines Beauftragten. Dieser sagt einige Worte der Erbauung, dann zieht er sich in das dafür vorgesehene Zimmer zurück, um jeden Ordensmann der Reihe nach seinen individuellen Pflichten, sowie nach den Mitgliedern und den Angelegenheiten der Kommunität.
Der Ordensmann sagt ehrlich und ohne Voreingenommenheit, was er von den Mitgliedern der Kommunität, vom Oberen, von der Leitung, von dem und jenem Mitbruder hält, dessen Verhalten zu wünschen übrig lässt und die anderen mehr oder weniger skandalisieren kann, sowie vom Amt, mit dem er betraut ist. Das soll er ganz einfach im Angesicht Gottes tun. Und wenn er seine Bemerkungen vorträgt, bleibe er eingedenk, was er selber ist, und dass er die anderen nicht anders beurteilen darf als er selbst von ihnen beurteilt werden möchte. D.h. so wie er wünschen soll, dass seine Fehler ihm zu seiner Heiligung mitgeteilt werden, nennt er dem Visitator mit demselben Eifer und derselben Liebe die Fehler dieses oder jenes seiner Mitbrüder.
Man beginnt bei den jüngsten und endet mit dem Oberen. Dann beginnt der Generalobere die Visitation aller Ämter des Hauses, der Zellen, der Kapelle, usw.
Ist diese häusliche Visitation beendet, dann versammelt er wieder sämtliche Ordensleute und macht ihnen die nötigen Beobachtungen. Man schließt mit dem eucharistischen Segen. So wollen wir heute verfahren. Ich kann euch nicht dringend genug einladen, den Geist des Glaubens, der Nächstenliebe und der Einfachheit des hl. Stifters mitzubringen, lauter Dinge, die von größter Wichtigkeit sind für die Bewahrung des Geistes der Oblaten des hl. Franz v. Sales wie für das Gelingen der kanonischen Visitation. Was wir jetzt unternehmen, ist eine Beichte der Kommunität. Die „Rechenschaft“ dagegen ist für jeden einzelnen bestimmt. Die Visitation gilt für die klösterliche Gemeinschaft und befasst sich mit der allgemeinen Observanz.
In diesem Augenblick brauchen wir alle einen starken Glaubensgeist und ein festes Vertrauen in die Mittel, die die Kirche uns zur Verfügung stellt. Denn die hl. Kirche ist es, die uns die hl. Sakramente gibt, Taufe, Eucharistie, Beichte. Ohne Sakramente kein Christ.
Die gleiche Kirche stellt aber auch die Mittel zur Verfügung, die der Ordensstand anwendet. Ohne diese Mittel kein Ordensmann.
Wenn man die Sakramente empfängt, ohne an die Kraft der Sakramente zu glauben, begeht man ein Sakrileg. Wer nicht an die Dinge des Ordensstandes glaubt, obgleich er sie äußerlich vollzieht, wird freilich nicht zu hören bekommen, er begehe eine Gotteslästerung. Bestimmt tut man aber etwas Unvernünftiges, das der Seele Dunkelheiten, Mutlosigkeiten und alle möglichen Erbärmlichkeiten zuzieht und sicher zur Sünde führt, weil man ja der Gnade Gottes als Stütze ermangelt, die man ausgeschaltet hat.
2. Nach der Visitation.
Unter den hauptsächlichen Punkten, auf die ihr in diesem Jahre achten sollt, ist nach euren persönlichen Bemerkungen und der Meinung eurer Gemeinschaft zuerst der, dass man mit großer Gewissenhaftigkeit um Erlaubnis bittet. In diese Bitte heißt es alle Diskretion und alle geziemende Gerechtigkeit legen.
Bittet um Erlaubnis, wenn ihr in die Stadt ausgehen wollt, indem ihr angebt, wohin ihr wollt, was ihr dort zu tun habt und wie lange ihr ausbleiben werdet.
Diese Erlaubnisse dürfen euch gleichwohl nicht von euren Pflichten dispensieren. Nach Erhalt der Erlaubnis soll man die guten und angegebenen Motive wahren. Desgleichen soll man, wenn uns etwas anvertraut wurde, es zur gegebenen Zeit und bis in alle Einzelheiten ausführen, aus Ehrfurcht vor der hl. Regel, die will, dass man dem Oberen gehorche und die Dinge nicht nach eigenem Belieben tue, sondern wie es der Obere verlangt. Diese Bemerkung ist von großer Wichtigkeit, weil von den gegebenen Anordnungen und ihrer Ausführung die Ordnung des Hauses, das Gedeihen des Ganzen, der Erfolg unseres Unterrichts und der sonstigen Seelsorgewerke abhängen. Im Besonderen hängt davon auch die Unterrichtsweise ab, die uns helfen soll, das Ziel unserer Kollegien, nämlich die religiöse Durchformung unserer Jugend zu erreichen. Wir müssen darum jeden Gehorsam und jede Erlaubnis oder Dispens als etwas sehr Ernstes betrachten. Das wurde bislang in nicht wenigen Fällen vernachlässigt. Hier gibt es etwas gutzumachen und in Zukunft besser zu machen.
Ein zweiter Punkt betrifft unsere Diskretion in unseren gegenseitigen Beziehungen: nicht nach Lust und Laune seine Abneigung gegen diesen oder jenen hinausposaunen. Sich nicht die Freiheit nehmen, ein unbedachtes Urteil zu fällen über dieses oder jenes Wort, diese oder jene Tat eines Mitbruders oder gar des Oberen. In dieser Hinsicht lassen wir sehr zu wünschen übrig. Da heißt es sich gut überwachen, und das umso mehr, als diese Art Indiskretion allerlei Reibereien und Verbitterung zur Folge hat und die Liebe tötet. Das zerstört genau das, was zum Zusammenleben in einer Gemeinschaft an Gutem, Angenehmen und Nützlichen für uns mit sich bringt.
Machen wir es zu unserer Lebensregel, nie irgendetwas gegen irgendjemanden zu sagen! Hört ihr über jemand Vorwürfe oder wenig wohlwollende Bemerkungen vorbringen und ihr habt die Pflicht, das dem Betreffenden mitzuteilen, dann hütet euch, in die gleiche Kerbe zu schlagen. In den meisten Fällen verletzt ihr den Mitbruder, wenn ihr ihm das Gesagte weitererzählt, zutiefst und er trifft wie selbstverständlich die Feststellung: Hat man an mir etwas auszusetzen, soll man es mir sagen. Auch in diesem Punkte fehlen wir sehr.
Ihr werdet mir entgegenhalten, wir leben hier doch in einer Familie, und in jeder Familie streiten sich von Zeit zu Zeit die Brüder, ohne dass sie deshalb aufhören, sich zu lieben. Dennoch heißt es hier achtgeben. Wir sind zwar Brüder, aber nicht infolge natürlicher Blutsverwandtschaft oder Familienzugehörigkeit. Wir sind Brüder durch die Gnade Gottes, und ohne die Gnade, die durch Fehler gegen die Liebe gelähmt wird, was wird da aus unserer Brüderlichkeit?
Was uns persönlich betrifft, denken wir oft daran, dass unsere Berufung sich nur an uns persönlich richtet. Unser hl. Stifter fordert uns nie auf, dem Beispiel eines x-beliebigen zu folgen, sondern was rät er uns? Wer von seiner Versuchung oder Leidenschaft geplagt wird, möge Mut und Stärke schöpfen aus der Betrachtung der Mühen und Arbeiten unseres Herrn… Haben sie bei der Übung der Tugenden Schwierigkeiten, werden sie sich belehrt und unterstützt fühlen, wenn sie Jesus beobachten, wie er die gleichen Tugenden geübt hat. Das uns nichts anderes rät er uns. Darin liegt große Kenntnis der geistlichen Dinge und des menschlichen Herzens. Wir sind hier, um uns durch den Gehorsam, die Liebe, das Direktorium und die Übungen des klösterlichen Lebens zu heiligen, und nicht, um zu sehen, was der und jener macht, um zu hören, was andere sagen, um dann deren Beispiel nachzuahmen, um wie sie zu arbeiten, um euch zu führen, wie sie es tun. Wir haben unsere Pflicht, und von der allein müssen wir uns leiten lassen. Da handelt einer in unserer Umgebung schlecht. Niemand fordert uns jetzt auf, über ihn zu urteilen oder zu denken, sein Tun sei richtig. Ein Urteil über ihn steht uns nicht zu. Wir sind nicht damit beauftragt, ihn zu bilden und zu bessern. Vor allem aber sind wir nicht verpflichtet, es ihm nachzumachen. Unsere geistliche Strategie besteht nicht darin, uns mit irgendjemandem im Duell zu schlagen. Wir bleiben vielmehr bei unserem Leisten und bemühen uns, uns in unseren eigenen Versuchungen zu bewähren, statt achtzugeben, was um uns herum vorgeht und nichts angeht, solange wir nicht eigens damit beauftragt sind.
Erneut schärfe ich allen ein, die Liebe zu üben. Alle Neuankömmlinge sind sich darin einig, dass wir die Liebe vernachlässigen. Das ist ihre erste Beobachtung. Fassen wir darum den festen Entschluss, uns in diesem Punkt zu überwinden und niemand mehr zu richten.
Nehmen wir es ernst mit der Beobachtung der hl. Regel. Zum Assistenten der Kommunität des Großen Kollegs ernenne ich den P. Lambert. In Abwesenheit von P. Rolland wird er ihn vertreten in den Fragen der Frömmigkeit, der zu gebenden Erlaubnisse usw. Wir dürfen auf ihn vertrauen. Das Beispiel, das er in seinem Alter noch gibt, die Frömmigkeit, mit der ihn Gott begnadigt, lassen uns mit Freude hoffen, dass ihr ihn gern in dieser Funktion annehmt und ihm das Vertrauen entgegenbringt, das er verdient.
Eine letzte Empfehlung möchten wir euch geben: jeder möge sich völlig frei und ohne jede Hemmung den Vorgesetzten eröffnen. Wenn ihr einen Grund zur Traurigkeit, Furcht oder Widerwillen habt, ob berechtigt oder nicht, immer, wenn euch etwas Hartes und Bitteres durch die Seele zieht, behaltet es nicht für euch, sondern sagt es dem P. Rolland oder dem P. Lambert oder mir oder auch einem anderen erfahrenen, frommen und befreundeten Mitbruder. Verschließt nicht in euch, was euren Gang auf dem Pfad des Ordenslebens beschwert. Wenn ihr in derlei Dingen die „Rechenschaft“ übt, wäre das gar nicht schlecht, um eure Seele zu erleichtern.
Ich kann euch versichern, dass ich viel Rücksicht nehme auf jeden einzelnen von euch. Alles ist uns nicht möglich in den augenblicklichen Zeitläufen, und wir müssen nachsichtig sein in unserem Urteil über Fehler gegen das Ordensleben: Kindheitserziehung, Einfluss der Familie, Umwelteinflüsse, alles, was man so hört und sieht, dazu eure vielseitigen Beschäftigungen. Ferner der Teufel, der immer zugegen ist… Das alles bewirkt aber, dass die Gnade nicht immer den Sieg davonträgt. Ich rechne mit all dem, und Gott berücksichtigt all das bei jedem von uns auf eine besondere Weise.
Wir übergeben uns hierin ganz den Händen Gottes. Er sieht unsere Mühsale und bedenkt jede eurer Prüfungen. Möge dieser Gedanke euch Mut machen. Ihr habt euch zu plagen und zu leiden… Hättet ihr es in der Welt besser? Darüber sollt ihr nicht urteilen. Es ist sicher, dass jeder von uns sein Kreuz zu tragen hat und dass er es genau auf der Schulter trägt, die die kränklichste ist… Beten wir viel füreinander. Was mich betrifft, so nehme ich vor und verpflichte mich vor euch, bei der hl. Messe mit ganzer Kraft um die Hilfe zu bitten, die ihr nötig habt.
Bitten wir unseren Herrn darum, bitten wir die Gute Mutter, bitten wir sie um einen ganz speziellen Segen, für euch persönlich wie für alle anderen.
