Ansprachen

      

52. Ansprache zum Thema „Der Sinn unseres Ordenslebens“ anlässlich des Noviziatsbeginns des P. Deroux und zur Profess des P. Jaquier am 25.02.1897.

Heute Abend will ich euch in den Sinn unseres Ordenslebens einführen. Wo finden wir die Gedanken unseres hl. Stifters ungekürzt zu diesem Thema? Welches Buch liefert uns den Schlüssel zu seinem Geist, die Zusammenfassung seiner Lehre? Zweifellos die „Abhandlung von der Liebe Gottes“. In dieses Buch hat der hl. Kirchenlehrer seine ganze gelehrte Theologie hineingeschrieben, aber auch seine praktische Theologie…

Dieser „Theotismus“ schildert die Kunst, sein Leben so zu verbringen, dass man es einer Lehre, einer Richtung anpasst, die der Heilige zuerst selbst befolgt hat. Sie wollte er dann den großmütigen Seelen und jenen, die es verstehen können, einprägen. Sie wollte er aber auch, das war sein ausdrücklicher Wunsch, einer Gesellschaft von Priestern einprägen, die er in diesem Geist bilden wollte…

Die Methode des hl. Stifters, die uns in diesem Werk vorgestellt wird, ist zweifellos neu, was ihre spezielle Anwendung und ihre praktischen Details angeht. Im Grunde aber hat Franz v. Assisi, der hl. Bernhard, der Liebesjünger Johannes und eine Menge Heilige dieses selbe Leben gelebt. Es ist ja das Evangelium und die Hl. Schrift. Die Methode des hl. Franz v. Sales betrifft nur die leichte und praktische Verwirklichung des Evangeliums bei allen Handlungen des Tagewerks.

Welches ist nun dieses Leben, das ihr euch verpflichtet zu führen? Welches ist die Lehre und die Methode des Theotismus? Ich finde sie vollkommen ausgedrückt in den zwei Versen des Psalmisten: „Unam petii a Domino, ianc requiram, ut inhabitatem in domo Domini omnibus diebus vitae meae. Ut videam voluptatem Domini et visitem templum eius.“ (Anm.: „Nur eins habe ich vom Herrn erbeten und werde ich immerzu suchen: dass ich im Hause des Herrn wohnen darf alle Tage meines Lebens, damit ich die Freuden des Herrn betrachte und die Schönheit seines Tempels durchdenke.“).

Der Psalmist besteht auf dem Wort: „unam“, nur eins. Auch wir müssen eines Sinnes sein: müssen nur eins wollen!

Bilden wir wirklich eine kompakte Einheit, keine bloße Vermischung, im Haus des Herrn… d.h. seien wir wahrhaft ganze Ordensleute. Wenn ihr anderes anstrebt, Ordensmann zu sein in der Mitte, neben der Mitte, außerhalb des Ganzen, dann seid ihr keine vollständigen Ordensleute, seid vielmehr irgendeine Vermischung, Vermengung, sucht etwas anderes, mit Gott zusammen, aber nicht mehr Gott allein.

Entspricht das nicht dem alten philosophischen Sprichwort: „Timeo hominem unius libri“ (Anm.: „Ich fürchte den Menschen [Leser] eines einzigen Buches.“). Ein kluger Prälat aus Paris sagte es in einer anderen Form: „Timeo hominem unius operationis“: Ich fürchte einen Menschen, der in allem nur ein einziges Ziel, ein einziges Tun verfolgt.

Meine Freunde, seien wir, was wir sein sollen: Ordensleute… Ich sage nicht, vollkommene Ordensleute, denn die Vollkommenheit kommt erst später. Ich sage: Seid Ordensleute aus einem Guss, die ganz und ungeteilt ihrer Aufgabe leben, die alle Tage ihres Lebens wahrhaft und ausschließlich in diesem Haus des Herrn wohnen wollen. In diesem Hause des Herrn: das ist der Wille Gottes, im klösterlichen Gehorsam vollbracht.

„Ut videas voluptatem Domini…“ (Anm.: „Damit du die Freude des Herrn schaust…“). Meine Freunde, ihr müsst begreifen, worin diese himmlische Freude, diese Freude des Herrn besteht… Ist sie nicht gerade unser Ordensleben mit seinem ununterbrochenen inneren Gebet? Besteht nicht darin die Freude unserer Seele, dass sie ohne Unterlass, mit Jesus Christus zusammen, Gott geeint sein will?

In diesen freudigen Jubel unseres Herrn gehen wir ein durch das Gebet, das Gebet in Vereinigung mit unseren Mitbrüdern. Was bliebe schon von unserer Lebensweise übrig ohne das Gebet? Was vermögen wir schon inmitten all unserer Pflichten, Widersprüchen und Prüfungen, die uns ganz einhüllen? Das Gebet versenkt all das in Gott, macht uns eins mit Gott. Es schenkt uns den Vatergott, und mit dem Vatergott die innere Freude. Wie oft sagte ich zur Guten Mutter, wenn sie mir innere Freude dieses ganz gottgeeinten Lebens sprach: „Aber Gute Mutter, das ist so schön wie der Himmel auf Erden… Man würde darüber gern den Himmel vergessen…“ „Sprechen Sie nicht so!“, antwortete sie, „das könnte Ärgernis erregen!

Meine Freunde, ich sage euch nichts Übertriebenes: Gewöhnt euch dieses ununterbrochene Gebet an, das das Leben des Oblaten ausfüllen soll! Macht euch die ständige Übung des Direktoriums zu Eigen, das nichts anders ist als der praktisch angewandte „Theotismus“. Dann könnt ihr feststellen, ob ihr darin nicht den Frieden, das Glück und die Freude des Herrn findet. Der Kelch kann gewiss zu bestimmten Stunden bitter schmecken. Doch wird er versüßt, und hat die Seele ausgetrunken, gedenkt sie nicht mehr der Bitterkeit, weil ein Geschmack von Süßigkeit und Honig im Munde zurückbleibt.

Jeder Tag und jede Viertelstunde unseres Lebens sollte darum ein Gebet sein, das uns mit Gott vereinigt. Gewöhnen wir es uns an, uns nicht mehr vom Erlöser zu trennen… Um diese Dinge zu verstehen, meine Freunde, muss man sie erst praktizieren.

„Ut visitem templum eius.“ (Anm.: „Damit ich seinen Tempel besuchen kann.“). Welches ist dieser Tempel des Herrn? Unsere Beschäftigungen, Studien und Arbeiten. Es sind die Seelen, die Gott uns anvertraut…

Ist die Literatur, z.B. nicht auch der Tempel des Herrn? Das Wort Gottes ist doch auch das Wort seines ewigen WORTES (Christus, der „Logos“), das uns die Herrlichkeiten und Geheimnisse des Himmels geoffenbart hat. Ist die wahre und schöne Literatur etwa etwas anderes als das Eco des Wortes und dieses ewigen WORTES, als die Ausstrahlung des göttlichen WORTES? … Und gerade dieses Echo, diese Ausstrahlung legt in unsere armseligen menschlichen Worte Wahrheit, Schönheit und Gutheit. Warum sollten wir unseren Schülern die Literatur? Warum sollten wir nicht für uns beten, was man früher in einem Hymnus der alten Liturgie von Troyes sang: Göttliches Wort, du hast eine zweifache Geburt: eine ewige aus dem Schoß deines Vaters, und eine zeitliche in unserer Mitte. Sprich zu uns also im Grunde unseres Herzens und mache, dass wir selbst zu den Seelen von diesem WORT, das uns erleuchtet, sprechen.
Das, meine Freunde, ist unser Geheimnis, und das lehrt uns das Direktorium: Wir finden Gott in allem, was wir tun. Suchen wir dazu die Mitarbeit des göttlichen Wortes, nahen wir ihm und erleuchten wir unsere Seelen an dieser göttlichen Fackel…

Ich sage es noch einmal: Nichts anderes als das lehrt uns Franz v. Sales, das ist die ganze „Gottesliebe“ (Theotismus).

„Ut visitem templum eius.“ (Anm.: „Damit ich seinen Tempel sehen kann.“). Ist die Wissenschaft nicht auch der Tempel Gottes? Jetzt, ihr wisst es, wiederholt sich auf Erden der große Kampf, der vor der Erschaffung der Welt am ersten stattfand. Der Engel des Lichtes wird zum Engel der Finsternis. Luzifer revoltiert gegen Gott, will das Reich Gottes zerstören. Und heute ist es nicht anderes: Satan wendet sich gegen den Himmel und will Gott verdrängen, ihn ersetzen. Liest man das nicht in den Zeitungen und Büchern? Unternimmt die offizielle Wissenschaft es nicht, Gott bis hin zu seinem Namen zu zerstören? …

Warum sollten auch Oblaten nicht das tun, was die treuen Engel tun? Warum sollte es nicht unser eifriges Bestreben sein, in unseren Studien die Bestätigung, Stütze und Entfaltung unseres Glaubens zu schöpfen? Das wäre eine Gelegenheit, uns immer inniger mit Gott vereinigt zu halten. Machen wir doch unser Wissen, unsere wissenschaftlichen Studien zu einem unbesieglichen Beweisgrund unseres Glaubens und zu einem Mittel, mit Gott vereinigt zu bleiben… Ja, besuchen wir den Tempel Gottes, der sich Wissenschaft nennt! …

„Ut visitem Templum eius…“ Welches kann außerdem noch dieser Tempel Gottes sein? Es sind die Seelen, und zwar die, die Gott uns anvertraut hat und mit denen wir uns direkt oder indirekt zu beschäftigen haben: direkt, wenn wir ihnen auf irgendeine Weise zu nützen und Gutes zu erweisen haben. „Ut visitem Templum eius…“: Suchen wir doch die Seelen auf und tun wir es auf die Weise des hl. Franz v. Sales: Welche Ehrfurcht und Hochachtung brachte er ihnen entgegen, diesen Abbildern Gottes!  Wie gab er sorgsam acht, den göttlichen Gnadenzug nicht zu zerstören! Welchen Eifer und wieviel Gebet brachte er auf, jeder Seele behilflich zu sein, ihren eigenen Weg zu finden… Meine Freunde, wie schön ist doch Gott doch in einer Seele, die sich heiligt! Und wie göttlich ist dieser Tempel, den Gott sich als vorübergehende Wohnung, wie es scheint, auswählt in der hl. Kommunion. Gleichwohl ist er eine bleibende Wohnstätte, wenn die Seele mit ihrem Gott zusammen zu leben weiß und willens ist! Seien wir darum gute Oblaten und bilden wir uns in der Schule des hl. Franz v. Sales. Lesen und studieren wir die „Abhandlung von der Liebe Gottes“. Praktizieren wir vor allem das Direktorium, damit wir lernen, die Seelen gut zu kennen und diesen Tempel Gottes zu besuchen, ihn zu schmücken, wenn ihr nichts in Händen habt? Rüstet euch aus, indem ihr euch mit Franz v. Sales durchdringt und mit seinen Schriften nährt. Betrachtet den Erlöser jeden Tag in diesem klaren Spiegel und versucht, eure Schritte in seine Fußstapfen zu setzen. Sprecht mit dem Herrn, solange ihr unterwegs seid, dann werden eure Herzen in eurer Brust brennen… Meine Freunde, das ist euer Weg. Folgt ihm, dann wird euer Leben sich auf starke Tugenden und unnennbare Tröstungen stützen.