49. Ansprache zur Erneuerung am Fest Mariä Opferung sowie zur Einkleidung des P. Cochereau, am 21.11.1896.
Meine Kinder, ich beginne diese Zeremonie, indem ich zuerst an Sie das Wort richte, die Sie das kirchliche und klösterliche Gewand, die heilige Soutane, anziehen wollen. Empfangen Sie es mit tiefem Dank, weil Ihre Soutane Sie gegen die schlechten Einflüsse der Welt, gegen die Bosheiten des Teufels und gegen Ihre eigenen Schwächen schützen wird. Ziehen Sie dieselbe immer mit großer Ehrfurcht an. Nehmen Sie die Gewohnheit des hl. Aloysius an, der nie seinen Talar anzog, ohne ein Kreuzzeichen zu mache und ihn liebevoll zu küssen. Der Soutane gebührt somit große Ehrfurcht. Und erlauben Sie mir die Bemerkung: Gehen Sie sorgsam mit diesem religiösen Gewand um, wie man mit einer heiligen und kostbaren Sache umgeht. Tragen Sie es mit einem lebhaften Geist der Armut, der an die Demut unseres Herrn erinnert. Halten Sie dieses Kleid reinlich. Und auch, soweit möglich, in einem guten materiellen Zustand, weil es Gottes Eigentum ist, wie der hl. Bernhard sagt. Und er sagte weiters zu seinen Mönchen: Welches Gewand wird man euch einmal geben, wenn ihr in den Himmel eingeht? Ich meine, das Kleid, das Gott für euch vorziehen und das hochzeitliche Gewand der ewigen Glückseligkeit sein wird, wird kein anderes sein als das, womit ihr euch heute bekleidet.
Gott hat euch mit einem Blick der Liebe betrachtet, meine Freunde, als er euch dieses Gewand reichte. Dieser Liebesblick wird euer ganzes Leben währen, ja Gott wird euch gern im demselben Kleid in den göttlichen Freuden der Ewigkeit anschauen.
Wir aber, meine Freunde, wollen unsere Gelübde erneuern. Wie wohl tut es, dem Herrn zu gehören! Wie schön, nur Ihm zu dienen, dahin zu gehen, wo er will, dass wir gehen, und nirgendwo anders.
Wir brauchen nicht den Willen eines Menschen zu tun und den Launen eines Individuums zu gehorchen, das mehr oder weniger Macht über uns hat. Ihr habt euch vielmehr Gott allein übergeben. Und was das größte Privileg des Ordensstandes ausmacht: sich aufs Innigste und Herz an Herz mit dem Erlöser unterhalten, das dürft ihr in aller Fülle nach der Lehre des hl. Franz v. Sales und aufgrund eurer Berufung. Mit eurem Direktorium steht ihr in unaufhörlichem Kontakt und Zwiegespräch mit Himmel. Welch ein Glück empfindet man doch, auf solche Weise Gott zu gehören… Mit welche Liebe betet man jeden Tag im Brevier den tröstlichen Psalm: „Beati immaculati in via, qui ambulant in lege Domini“ (Anm.: „Selig, die ohne Fehl und Tadel unterwegs sind und mit ganzem Herzen im Gesetze des Herrn verweilen.“). Das ist das Programm, dem wir zu folgen haben: „Beata immaculati in via…“ Selig, die rein und schuldlos ihren Weg gehen…
Der Weg: Die Gute Mutter hat viel von ihm gesprochen. Was meint sie damit? Es ist der Pfad, den Jesus mit seinen Füßen gegangen und vorgezeichnet hat. Die leuchtende Spur, die von seinen Fußstapfen zurückbleibt. Die wohlduftende Atmosphäre, die seine göttlichen Tugenden auf dem Weg zurückgelassen haben: der Wohlgeruch, der von den Kleidern Jakobs ausging und den alten Isaak und seine Segnungen angezogen hat. Es ist die Straße, auf der der Herr die treue Seele an sich zieht und mit allen Zärtlichkeiten seiner Gnade umgibt: „Beati immaculati in via“: Ihr bewegt euch auf diesem Weg, meine Freunde. Alles, was ihr tut, geschieht auf diesem Weg. Sein Direktorium befolgen, bedeutet: Auf diesem Weg vorangehen: „Beati qui scrutantur testimonia eius, in toto corde exquirunt eum.“ (Anm.: „Selig, die Ausschau halten nach seine Weisung, die mit ganzem Herzen ihn suchen.“): „Testimonia eius“, die Zeugnisse des Herrn, die heißt es also studieren und erforschen… Wie soll das geschehen? Glückselig gewiss jene, die sich dem Studium der göttlichen Wissenschaften hingeben, der Theologie, dem Studium der Aszetik und drei göttlichen Tugenden, der hl. Väter, der Kirchengeschichte und der Heiligenlegende. Um aber die Zeugnisse Gottes zu erforschen, muss man nicht nur die gedruckten Bücher studieren, nicht bloß Texturkunden erforschen. Es gibt noch andere Dinge, um diese göttlichen Zeugnisse wahrhaft kennenzulernen: Das ist das Studium der Seelen.
Was im Evangelium steht, gilt für alle und richtet sich an jedermann. Was jedoch zu jeder Seele im Besonderen gesagt wird, gilt bloß für die betreffende Seele.
Der Oblate soll nicht nur die kirchliche Lehre im Allgemeinen wissen, und den Sinn der Hl. Schrift durchdringen, sondern er soll damit auch die Kenntnis der Seelen verbinden und ergründen, was der Hl. Geist in die Herzen geschrieben hat und den Seelen eingibt…
Das ist ganz speziell unsere Berufung: die Seelen kennen und lieben lernen und ihnen helfen. „Beati qui scrutantur testimonia eius“, selig jene, die die Liebe Gottes in den Seelen erforschen und durchdringen. Denn wenn sich der Priester und Ordensmann, der Oblate des hl. Franz v. Sales diesem Studium hingegeben hat und zu ihrer Kenntnis gelangt ist, erfährt er, was der Psalmist sagt: „Comcaluit cor meum intra me, et in meditatione mea exardescet ignis.“ (Anm.: „Mein Herz erglüht in mir vor Liebe und wenn ich betrachte, entbrennt in mir Feuer.“). Sein Herz entzündet sich also in Liebe zu Gott, der solche Herrlichkeiten in die Seele ergießt, dass sie in göttlicher Strahlenglut leuchten… Er entbrennt in Liebe zu Gott und zu jenen Seelen, die er so tief beeinflusst, dass sie ihrer göttlichen Berufung wie der Erlösung des Gottessohnes würdig werden. Der Oblate muss sich vor Liebe und den Seelen verzehren…
In diesem Geist erneuern wir jetzt unsere Gelübde, damit Gott uns die dreifache Gnade schenke: Die Gnade der Reinheit und Unschuld. Die Gnade, im Herzensgrund der Seelen zu lesen. Die Gnade schließlich eines von Liebe brennenden Herzens, damit wir nach den Plagen dieses Lebens nicht allein gelassen werden wie Tagelöhner und untreue Knechte, dass wir vielmehr die Glorie und Seligkeit der Seelen, die wir zu retten mitgeholfen haben, teilen dürfen.
