Ansprachen

      

40. Unterweisung im Noviziat vom 02.01.1895.

Meine Kinder, ich wünsche sehr, dass ihr euch eine exakte Vorstellung vom Ordensleben macht, und besonders vom Ordensleben, wie es bei den Oblaten geübt wird. Denn unsere Lebensweise ist nicht genau die der anderen Kongregationen. In jeder Genossenschaft herrscht eine Mutteridee vor, die zur Ordensgründung geführt hat. Diese Ideen werden von der Zeit der Gründung bestimmt und sollen ein Licht sein, das die Kirche in den betreffenden Zeitumständen erleuchtet. So wurden die Jesuiten zur Zeit des Protestantismus gegründet, die Franziskaner in einer Epoche allgemeiner Erschlaffung des Glaubens und der Sitten, die Benediktiner zur Zeit der Kriege und Einfälle der Germanenvölker ins Römische Reich. So wurde jeder Orden zu einer Erneuerung des kirchlichen Lebens ins Leben gerufen. Und so erscheinen auch wir in der Kirche Gottes zu einem Zeitpunkt, wo der Glaube kaum noch existiert und die Wahrheiten sich verdunkeln. Der aber noch existierende Glaube ist allzu theoretisch-spekulativ geworden. Das Leben aus dem Glauben wird vernachlässigt, so dass selbst in den christlichen Familien die Kinder nicht mehr christlich erzogen werden. Der Gedanke des Opfers und Verzichts ist aus den Häusern verbannt. Wenn der Glaube noch christlich ausgerichtet ist, so ist es doch das Leben nicht mehr. Christliches Leben heißt aber Nachahmung der Heiligen. Wer da nur glaubt, aber nicht praktiziert, verkörpert nicht mehr die Lehre Jesu Christi. Die Kirche hat uns Oblaten zurückgelassen, um das Leben nach dem Evangelium wieder zu aktivieren. Das hat mir der Papst bestätigt. Der Novizenmeister der Eremiten Unserer Lieben Frau hat mir ebenfalls gesagt: „Ich glaube, die Oblaten sind dazu berufen, eine wichtige Rolle in der Kirche Gottes zu spielen und sich auf der ganzen Welt auszubreiten. Sie sollen zur Praxis des inneren und äußeren Glaubens zurückführen.“ Er hat mir das gesagt, als wir erst drei oder vier Oblaten waren. Wir haben demnach eine hohe Mission zu erfüllen.

Und das ist keine Idee im luftleeren Raum. Seht nur, wo unsere Patres überall sind: wie sie in Ecuador und in Griechenland zu kämpfen haben. Am Kap haben die Kämpfe aufgehört, die Arbeit hat begonnen. Alle, die unsere Patres kennenlernten, schließen sich ihnen an. Sie tun es mit einem Gefühl des Vertrauens, das ihnen sagt: Hier findet sich die ganze Wahrheit, die Wahrheit, die gerade meine Seele braucht. Und gerade in der Lehre des hl. Franz v. Sales finde ich in seiner Gesamtheit alles, was mir fehlt.

Um aber dahin zu gelangen, heißt es die Sache sehr ernst nehmen, heißt es wirklich Ordensmann sein. Das Ordensleben ist eine Folge von vielen kleinen Dingen. Wir haben keine großen Abtötungen. Als man in Rom unsere Satzungen prüfte, schlug ein Kapuziner vor, man möge doch ein Kapitel über körperliche Bußübungen hinzufügen: ein Fasten pro Woche, etc. Ein Kardinal antwortete ihm, wenn die Oblaten Punkt für Punkt die Vorschriften der Nächstenliebe beobachten, die in ihren Satzungen enthalten seien, täten sie eine beständige Buße und „eine mühsamere, als es Ihre sämtlichen Fassten und Geißelungen sind“, fügte er hinzu. Die Martyrer in China und Japan hatten keine andere Tortur zu ertragen, die man mit ihrem „Schandpfahl“ (Anm. d. Übers.: „Tragbares Brett mit Löchern für Kopf und Hände.“) vergleichen könnte, der dem Haupt nicht einen Augenblick Ruhe gönnte. So muss auch der Oblate sich entschließen, sich an einen solchen Sühnepfahl zu heften. Die hl. Regel ist für uns dieser Pfahl, der uns daran hindert, dass wir uns bei uns selbst ausruhen, da jeder Augenblick von uns ein Opfer verlangt. Dazu braucht es starken Mut. Der Soldat wiederholt beim Exerzieren hundertmal dieselbe Bewegung. Wir sollten es wie der Soldat machen.

Vernichtet und betäubt das aber nicht unsere Seele? Nein, das nimmt ihr auch keine geistigen Fähigkeiten weg. Wenn ihr es tut, werdet ihr vielmehr große Prediger, große Seelenführer, große Lehrer. Fällt uns das leicht? Nein. Darum glaube ich auch, dass es viel mehr Mühe erfordert, einen Oblaten heranzubilden, als einen guten Jesuiten, Kapuziner oder Kartäuser.
Ist der Oblate deshalb höher zu achten als ein Jesuit, Kapuziner oder Kartäuser? Nein, doch was ein Oblate tut, ist höher zu bewerten als das Tun eines anderen. Seht nur den hl. Franz v. Sales oder die Gute Mutter an.

Wenn ihr eure Feder in diese Tinte, eure Seele in diese Lebensweise eingetaucht habt, werdet ihr schauen, was eure Feder schreiben und euer Herz sagen wird. Darum macht euch während eures Postulates und Noviziates eifrig daran. Seid treue Beobachter der kleinsten Dinge. Letzte Woche starb in der Diözese Troyes ein heiligmäßiger Priester, der im Seminar begonnen hatte, seine Tagesordnung ernst zu beobachten. Er war sein ganzes Leben hindurch ein bewundernswerter Priester. Es ist ja keine kleine Abtötung, ein Wort im Stillschweigen zurückzuhalten, um nur ein Beispiel zu nennen. Macht diese kleine Anstrengung, das ist verdienstlicher als auf die Brotzeit nachmittags zu verzichten. Versteht das wohl und vermeidet auch jene falsche Freiheit in euren Beziehungen, indem ihr euch niemals duzt (Anm.: „In Frankreich wird allgemein mehr gesiezt als anderswo.“). Begegnet einander immer mit Ehrfurcht, wie der hl. Paulus sagt. Es kostet uns eine Überwindung, seine Kameraden nicht zu duzen. Sicher ist es keine Sünde, aber darauf verzichten ist verdienstvoller, und obendrein klösterlicher Gehorsam.

Einmal wurde ich streng getadelt von meinem Philosophie-Professor: einer meiner Mitschüler hatte begonnen, die Hausordnung mit großer Treue zu beobachten, und da machte ich ihm gegenüber eine etwas spöttische Bemerkung. Das hörte dieser Professor und sagte zu mir: „Derlei Späße sollte man nicht machen. Die Gnade Gottes hat ihn angerührt, und vermutlich bringt ihn Ihre Bemerkung wieder vom guten Weg ab, und Sie sind daran schuld. Derartiges ist eine Kleinigkeit.“

Schwester Maria-Genofeva ging eines Tages am Dom vorbei und sah in den Bischofshof eine schöne Kutsche einfahren. Da kam ihr die Versuchung, das genauer zu betrachten. Doch sie ging vorüber, ohne die Augen zu erheben. Da drängte sie eine innere Stimme, in den Dom zu gehen, und sie hörte die Worte: „Weil du dies für mich getan hast, werde ich alles für dich tun und dich nie verlassen.“ Einige Zeit später trat sie ins Kloster ein und führte ein heiliges Leben. Sie schrieb diesem kleinen Opfer die Gnade ihres Berufes zu. Seht nur, wie Gott dem Mose befiehlt, an den Felsen zu schlagen. Das schien ihm ungewöhnlich, darum schlägt er zwei Mal zu. Und Gott sagt zu ihm: „Weil du zwei Mal geschlagen hast, wirst du nicht ins Gelobte Land einziehen.“ Welch eine strenge Strafe!

Habt Verständnis für diese Dinge! In unseren Seminarien gibt man derlei Ermahnungen nicht, aber im Ordensleben ist das ganz anders, denn nur so gelangt man zur klösterlichen Vollkommenheit. Ermuntert euch darum selber dazu. Wenn ihr so handelt, lässt Gott sich nicht an Großmut übertreffen, und ihr werdet gute Ordensleute werden. Kein Wort also während des Stillschweigens. Seid ernst und gotthingegeben. Zeigt euch in der Freizeit herzlich, und jeder bringe gerne herbei, was er zu leisten imstande ist. Nur keine Derbheiten. Das können wir freilich nicht aus eigener Kraft. Fasst diesbezüglich einen guten Vorsatz, z.B. des Morgens bei der Betrachtung, und versenkt dieses Versprechen ins Herz Jesu!
David hat vor langer Zeit gesungen: „Herr, ich habe deine Zeugnisse verstanden, weil ich dein Gesetz gesucht habe.“ All diese kleinen Feinheiten des göttlichen Willens sollen wir verstehen: welch ein reicher Gegenstand der Erbauung, des Studiums und der Betrachtung, wenn alles, was uns begegnet, uns Erleuchtungen einbringt.

Da sollen wir unser Lehrgut suchen, in dem, was Gott uns durch unsere hl. Stifter erklärt hat. Seht nur, welch ein Kapitel, welche Gewichtigkeit! Wie muss das alles euer Denken beherrschen. Welch einen schönen Lehrstoff haben wir da zu behandeln, welch köstliches Studium jederzeit vorzunehmen. Haltet euch gern dabei auf, meine Freunde, dann macht auch ihr die Erfahrung des Psalmisten: „Deine Zeugnisse hab ich verstanden, Herr der Heere, weil ich dein Gesetz unablässig gesucht habe!“ Dann weiß man etwas zu sagen auf der Kanzel, im Katechismusunterricht, im Beichtstuhl. Wer kann dies verstehen? Alle ohne Ausnahme. Wer wird das verkosten? Alle, Kinder, Gelehrte, und auch Unwissende. Das übt aus sich heraus Wirkung aus. Geben wir uns ihm also ganz hin!