Ansprachen

      

34. Ansprache bei der Einweihung der Kapelle unserer Niederlassung in Paris am 07.11.1894.

Meine Kinder, das Oratorium, das wir soeben eingeweiht haben, ist recht klein. Doch kann man feststellen, dass unter den heiligen, dem Dienst Gottes geweihten Orten die kleinsten und die bescheidensten Tempel am meisten verehrt werden.

Das Heiligtum unserer Lieben Frau von Loretto ist mit Sicherheit eins der kleinsten Häuser der Welt, und doch erlebt man dort die meisten Tröstungen. Ich habe die hl. Messe an dem Altar dort gelesen, der von den Tränen sämtlicher Pilger benetzt ist. Das ist eindrucksvoll. Ich wollte mich vorher jedoch nicht weich machen lassen, und sagte mir vorher: „Es ist Mode, dass man hier weint. Darum werde ich es nicht tun…“ Ich steige also den Altar hinauf. Das Altartuch war von Tränen ganz durchnässt… Kaum hatte ich mit der hl. Messe begonnen, tat ich wie alle anderen…

Nicht der äußere Glanz eines Gebäudes macht es also heiliger. Geht man nach Jerusalem und besucht die hl. Stätten, dann ist der ehrwürdigste Ort zweifellos das hl. Grab, und doch ist es nicht größer als unser Kapellchen hier. Da betet man gut, denn mit dieser Stätte sind unvergessliche Erinnerungen und ganz besondere Gnaden verbunden. Da atmet man eine Atmosphäre des Glaubens und der Liebe.

Pilger, die zu „Unserer Lieben Frau von den Einsiedlern“ wallfahren, sehen, dass die Kapelle, wo die seligste Jungfrau erschien, sehr klein ist. Und doch pilgert die ganze Welt dorthin und betet unter großen Tröstungen. Als ich dorthin ging, um die Oblaten zu gründen, wurden mir dort alle Antworten und alle Erleuchtungen, alles, was die Gute Mutter mich dort zu suchen geschickt hatte, zuteil.

Auch im kleinen Sprechzimmer der Heimsuchung offenbarte sich der Herr der Guten Mutter auf eine besondere Weise. Er unterhielt sich mit ihr und gewährte ihr alle Arten von Gnaden, nicht nur für sie selbst, sondern auch alles, was sie anderen mitteilen sollte. Er tat dies in einem kleinen „Sacellum“ (Anm.: „kleine Kapelle“), wie man im Lateinischen sagt, klein, eng und intim. Besondere Gunsterweise bedingen also keine großartigen Gebäude, im Gegenteil. Es scheint, dass die Gnaden umso reicher und liebenswürdiger fließen, je mehr man sich einschränkt.

Ich hoffe deshalb, dass diese enge Betstätte für euch zum wahren Haus des Freundes eurer Seele, des Erlösers werde, ein echtes Betanien. Damals waren die Wohnungen im Orient ja recht eng, auch das Haus der Martha machte hierbei keine Ausnahme. Und doch kam der Herr dorthin, um sich auszuruhen, sich mit Lazarus zu unterhalten. Dorthin, wo Maria sich zu seinen Füßen setzte, um sein Wort zu hören, und Martha alles tat, um ihn gut zu bewirten. In dieser Intimität enthüllt Jesus die Vertraulichkeiten seines Herzens. Da bereitete er sich auf seine Leiden vor, sprach er von seinen Schmerzen, erwies nicht nur seine Liebe, sondern seine Freundschaft, was noch tiefer geht. Liebe eint, Freundschaft aber bindet die Seelen unauflöslich zusammen. „Jesus autem amabat Lazarum.“ (Anm.: „Jesus liebte den Lazarus.“). Welches Glück erlebten doch diese Freunde! Ich verspreche auch Ihnen, dass der Heiland Ihnen das gleiche vorbehält! Denken Sie immer an das Wort: „Jesus amabat.“ D.h., Jesus hatte Ihnen die innersten Geheimnisse seiner Liebe, die Schätze seiner göttlichen Zärtlichkeiten, seiner Freuden und Traurigkeiten vorbehalten. Jesus liebte es, sie um sich zu haben in den schwierigen Augenblicken seines Lebens. Hier in ihrer Nähe bereitete er sich auf seine Passion vor und holte Stärke in seinen Leiden, obwohl er Gott voll Kraft und Allmacht war. Wie schön muss es gewesen sein, bei ihm zu verweilen! Wie fühlten sich Maria, Martha und Lazarus glücklich, solch einen Gast zu beherbergen!

Diesen Gast sollen auch Sie beherbergen, er ist der gleiche Jesus, Gott und Mensch in Bethanien wie er es in der Krippe war und wie er es jetzt im Sakrament seiner Liebe ist. Der Schleier, der ihn heute umhüllt, ist derselbe wie der, der damals seine Gottheit verbarg. Doch der Glaube sagt uns, dass er hier mit denselben Schätzen und Absichten zugegen ist.

Rufen Sie deshalb mit aller Kraft die Gnaden seiner hl. Gegenwart herbei, damit es hier gut zu leben sei und die wenigen Personen, die hier zugelassen werden, ihre Wonnen verkosten. Dann werden auch Sie mit den Aposteln sprechen: Wie gut ist es doch hier sein, lasst uns unsere Zelte aufrichten. Er aber antwortet euch vielleicht: „Ihr wisst nicht, um was ihr bittet, denn ihr geht Trübsälen entgegen und Leiden… Das wartet auf euch. In derartigen Umständen sollt ihr immer hierher flüchten. Da findet ihr mich, um euch zu stützen und zu ermutigen. Denn euch will ich alles sein, eure Stärke und euer Lohn.“
Amen.